Luther und der Reformationstag:Held oder Holzklotz?

Lesezeit: 4 min

Er hat nie Thesen angeschlagen und wollte keine Kirche gründen. Martin Luther ist viel weniger der große Neuerer als ihn die protestantische Tradition gerne sieht. Der entsprungene Augustinermönch stand noch mit beiden Beinen im Mittelalter - und er hasste Juden.

Petra Bahr

Das Denkmal von Martin Luther in Wittenberg: Der Augustinermönch war ein schwieriger Mensch. (Foto: dpa)

Was feiert ihr eigentlich am Reformationstag? Ein Freund hat das gefragt, ein bisschen spöttisch, von Beruf ist er Historiker, ein Wissenschaftler. Seine Zunft hat viele Geschichten, die sich um die Reformation ranken, als Mythen entlarvt. So sehr, dass man sich tatsächlich fragen kann, was die evangelische Kirche an diesem 31. Oktober feiert.

Martin Luther, der Augustinermönch, hat seine Thesen nie mit kräftigem Hammerschlag an die Schlosskirchentür in Wittenberg gehämmert, weder am 31. Oktober 1517 noch sonst irgendwann. Das Fanal zum reformatorischen Aufbruch war in Wahrheit die Einladung zu einem akademischen Disput. Dieser Heros oder Holzklotz der Kirchengeschichte wollte keine neue Kirche gründen. Er hat nicht die Moderne begründet. Martin Luther stand noch mit beiden Beinen im Mittelalter, mit seiner Suche nach dem gnädigen Gott genauso wie mit seiner Türkenangst und der Furcht vor dem nahen Ende der Welt.

Die Reihe lässt sich fortführen: Martin Luther ist viel weniger der große Neuerer, als den ihn die protestantische Tradition gerne hingestellt hat. Die Kritik am verordneten Handel mit dem Seelenheil haben vor ihm andere geäußert; das Papsttum galt auch anderen als verlotterte Agentur des Teufels; und auch der Gedanke, dass alleine Gottes Gnade den Menschen erlöst, war vor ihm schon gedacht worden. Nicht einmal die deutsche Sprache hat er mit seiner Bibelübersetzung erfunden: Andere hatten schon gute Vorarbeiten geleistet.

Auf Luthers Denkschrift über die "Freiheit eines Christenmenschen" folgte keineswegs die Proklamation bürgerlicher Freiheitsrechte, schon gar nicht die Freiheit der Religion. Das Ketzerrecht galt auch nach dem Augsburger Religionsfrieden weiter. Wer in der Wartburg die Klause besichtigt, in der Luther als Junker Jörg die Heilige Schrift übersetzte, sollte auch in den Kerker steigen, wo später die landeten, die als Abweichler vom wahren Glauben verurteilt wurden. Wer die klare Sprache des Mannes mit ihren lustigen Zoten und Wortschöpfungen gegen den vermeintlichen Intellektualismus der Theologen lobt, sollte mal einen Blick auf die anspruchsvolle lateinische Sakramentstheologie werfen, die es bis heute nicht in den gängigen Lutherkanon geschafft hat.

Und dann war er noch ein schwieriger Mensch, dieser entsprungene Mönch. Er war ein Gottesfreigeist, der Papst und Kaiser die Stirn geboten hat. Er kämpfte aber auch mit seelischen Dämonen und wünschte am Ende seiner Tage den Juden die Pest an den Hals. Der Kirchenvater wider Willen war nicht nur eine streitbare, er war auch schon zu seiner Zeit eine umstrittene Persönlichkeit. Was dann folgt, ist die Geschichte der Protestantismus. Sie darf nicht nur als Geschichte der Auseinandersetzung mit der anderen Konfession erzählt werden; sie ist auch eine andauernde innerevangelische Konfliktgeschichte. Non vi sed verbo - nicht mit Gewalt, sondern durch Überzeugungskraft sollen Menschen gewonnen werden. Wenn Luther und jene, die nach ihm kamen, sich nur daran gehalten hätten!

Judenhasser und Komponist
:Der Paranoia-Fall Richard Wagner

Phantasien von brennenden Juden und ein Pamphlet voller Hass: Wie der Komponist Richard Wagner zum Vorreiter des modernen Antisemitismus avancierte.

Von Oliver Das Gupta

Muss also die evangelische Kirche den Reformationstag absagen? Jedes historische Narrativ folgt gegenwärtigen Bedürfnissen. Das gilt auch für die Geschichte der Reformation. Deshalb hat auch jede Zeit ihren Luther. Der Bildersturm der Historiker auf die Lutherdenkmäler hat etwas Befreiendes. Das sentimentale Lamento, dessen zufolge früher alles besser war, gehört nun in die Vitrine. Der Triumphalismus vergangener Reformationsjubiläen ist endlich einem differenzierten, kritischen und selbstkritischen Umgang mit der eigenen Konfessionsgeschichte gewichen. Die "geistige Überlegenheit" des Protestantismus als protestantischer Leitkultur Preußens feiert heute niemand mehr, Gott sei es gedankt. Der symbiotischen Verbindung aus Luthertum und deutschem Nationalismus ist die Sensibilität für die europäische und außereuropäische Bewegung der reformatorischen Kirchen gewichen.

Dann und wann dringen noch einmal Versatzstücke des Kulturkampfes an die Oberfläche, aber das eigene Bekenntnis dient nur noch selten als Abgrenzung. Manchmal geht das Abgrenzungslose sogar so weit, dass - wie jüngst der Aufruf "Ökumene jetzt", unterschrieben von prominenten Christen beider Konfessionen - eine Politikerökumene suggeriert wird: Die Einheit der Kirchen lässt sich durch Koalitionsverhandlungen erreichen. Doch wenn ökumenische Vielfalt gelingen soll, wird es vielmehr Zeit, nach theologischen Einsichten zu fragen, die unter den Trümmern der Luthermythen begraben sind.

Was also geschieht am Reformationstag? Da erinnern sich evangelische Christenmenschen an die theologische Aufräumaktion, die in Wittenberg ihren Ausgang nahm. Allein durch Christus kommt der Glauben - also ohne die Kirche oder die Priester als Vermittlungsagentur. Allein durch die Schrift, also nicht durch die Traditionen, die sich mit Macht durchgesetzt haben, sondern durch die Aneignung, die aus der eigenen geistlichen Auseinandersetzung stammen. Dafür braucht es gebildete und urteilsfähige Christenmenschen aller Berufe, die sich an der evangelischen Deutung der Welt beteiligen.

Die Unterschrift eines handgeschriebenen Briefes des Reformators Martin Luther vom 28. März 1517 (Foto: dpa)

Und nicht wir Menschen erlösen uns selbst, das geschieht allein aus Gnade: Das Seelenheil ist nicht käuflich, weder durch Geld noch durch moralische Überlegenheit. Uns helfen nicht die Selbstrechtfertigung, das aufgehübschte Profil und die Inszenierung der eigenen Fehlerlosigkeit. Uns hilft die religiöse Gewissheit, dass Menschen vor Gott voraussetzungslos gewürdigt sind.

Aus dieser Gewissheit erwächst die Verpflichtung, das Individuum gegen die Vormacht von Schwarmintelligenz und jeglichem Anpassungsdruck (auch dem klerikalen) zu verteidigen. Auf dieser Freiheitserfahrung fußt alle evangelische Ethik.

Am Reformationstag feiern evangelische Christinnen und Christen weder einen Heldengedenktag noch einen Historikertag. Wir nehmen den religiösen Befreiungsschlag Luthers als eigene Freiheitserfahrung ernst und freuen uns daran. Wir singen die Marseillaise des Protestantismus: "Ein feste Burg ist unser Gott", stehend, mit Posaunen und Gänsehauteffekt.

Aber wir singen das alte Lutherlied nicht gegen die Anderen. Wir singen es gegen die eigene Mutlosigkeit und gegen die Trägheit des Herzens, gegen die Neigung, religionssoziologische Untersuchungsergebnisse über die Zukunft der evangelischen Kirche für Prophetie zu halten und gegen den Unwillen, die vertrauten Milieus zu verlassen. Wir singen es, weil wir uns der Botschaft von der befreienden Gnade Gottes heute anvertrauen. Die Historiker dürfen gerne mitsingen.

Die Theologin Petra Bahr, 46, ist Kulturbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland.

© SZ vom 31.10.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: