Lockerbie-Attentat:Totgesagter lebt länger

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Vor einem Jahr wurde der erkrankte Lockerbie-Attentäter aus schottischer Haft entlassen und nach Libyen geflogen, weil ihm angeblich nur noch drei Monate blieben. Nun lebt er vielleicht noch sieben weitere Jahre - den Briten ist das peinlich, die USA sind verärgert.

Wolfgang Koydl

Kurz nach Sonnenuntergang setzt sich der müde, kranke Mann in seinem Haus im Stadtteil Hay Dimashq der libyschen Metropole Tripolis zur ersten Mahlzeit des Tages nieder. Es ist Ramadan, und dies ist die Stunde des Iftar, des Fastenbrechens nach einem Tag der Enthaltsamkeit. Für Abdul Baset Ali al-Megrahi ist es ein besonderer Tag: Vor einem Jahr wurde der rechtskräftig verurteilte Terrorist aus schottischer Haft entlassen und nach Libyen zurückgeflogen.

Lockerbie-Attentäter Abdul Baset Ali al-Megrahi bei seiner Ankunft in Libyen vor einem jahr. Ursprünglich hatten die Ärzte ihm nur noch drei Monate gegebe, nun könnte er noch weitere sieben Jahre leben. (Foto: APN)

Drei Monate hatten ihm damals schottische Ärzte noch zu leben gegeben, und dies war die Grundlage für die Entscheidung der Regierung in Edinburgh, den Lockerbie-Attentäter aus humanitären Gründen auf freien Fuß zu setzen. Megrahi war 2001 als Drahtzieher des Terroranschlages auf den Flug PanAm 103 im Dezember 1988 für schuldig befunden worden, bei dem über der schottischen Ortschaft Lockerbie 270 Menschen getötet wurden. Seit seiner Freilassung sind zwölf Monate ins Land gegangen, und der an Prostatakrebs erkrankte 58-Jährige könnte nach Angaben libyscher Mediziner durchaus noch weitere sieben Jahre am Leben bleiben.

Den Behörden in Edinburgh und London ist das peinlich, sie haben die Libyer aufgefordert, den Jahrestag nicht mit Feiern zu begehen. Ein Iftar-Bankett, das Saif-el-Islam el Gaddafi, der Sohn des libyschen Staatschefs, Megrahi geben wollte, wurde dem Vernehmen nach stillschweigend abgesagt. Die Freilassung hatte zu Missstimmung zwischen Großbritannien und den USA geführt.

Die Mehrzahl der Lockerbie-Opfer waren Amerikaner, und deren Hinterbliebene waren entsetzt, dass man einem Massenmörder Mitleid erweisen konnte. Als dann noch herauskam, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Gnadenerweis und einer Ölbohr-Lizenz für den Multi BP vor der libyschen Küste geben könnte, erreichten die Proteste in den USA ein schrilles Crescendo. Schließlich war es dieselbe Firma, aus deren Bohrloch Öl in den Golf von Mexiko strömte.

Times belebt Unschuldtheorie

Die Firma und die Regierungen Großbritanniens und Schottlands haben jeden Zusammenhang bestritten. Premierminister David Cameron, der seit vergangenem Mai im Amt ist und mit der Freilassung vor einem Jahr nichts zu tun hat, lehnte gleichwohl eine Untersuchung ab. "Ich brauche keine Nachforschungen, um zu wissen, dass es eine schlechte Entscheidung war", meinte er diplomatisch. Dennoch ist bis heute nicht geklärt, warum genau der schottische Justizminister Kenny MacAskill den Attentäter freiließ. Die Prognosen der Ärzte waren offenbar nicht so konkret, wie behauptet worden war. Dass er noch lebt, könnte damit zusammenhängen, dass er in Libyen nun jene Chemotherapie erhält, die ihm in Schottland verwehrt wurde.

Nun hat die Times eine andere Theorie wiederbelebt. Demnach wäre Megrahi unschuldig - und MacAskill und Schottlands Regierungschef Alex Salmond hätten ihn abgeschoben, um der schottischen Justiz die peinliche Enthüllung zu ersparen. Tatsächlich zog Megrahi einen Revisionsantrag zurück - das war Bedingung für seine Freilassung. Megrahi hat stets seine Unschuld beteuert, eine Revision hätte nach Ansicht von Juristen Aussicht auf Erfolg gehabt.

Es bestanden stets Zweifel an der Glaubwürdigkeit des wichtigsten Belastungszeugen. Er hatte von den USA zwei Millionen Dollar für seine Aussage erhalten. Vor drei Jahren hatte eine schottische Justizkommission angeblich Beweise für einen Justizirrtum gefunden. Der Bericht wurde nie veröffentlicht.

© SZ vom 02.01.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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