Litauen: 20 Jahre Unabhängigkeit:Freiheit kann hart sein

Lesezeit: 3 min

"Die russische Militärdoktrin beruhigt uns nicht gerade": Auch 20 Jahre nach der Loslösung von der UdSSR blickt Litauen mit Sorge auf den Nachbarn. Ein Gespräch mit Außenminister Ažubalis.

M. Kolb, Vilnius

Audronius Ažubalis erinnert sich genau an den Winter im Jahr 1990. "Es war die spannendste Zeit in meinem Leben", sagt der 52-Jährige. Ažubalis war einer der Journalisten, die für die erste unabhängige litauische Zeitung Atgimimas arbeiten und halbwegs frei in der Sowjetunion herumreisen durften. Natürlich habe er nicht ununterbrochen gearbeitet, aber er habe nie aufgehört zu diskutieren - über die Zukunft Litauens, über Demokratie und die beste Strategie.

Heute ist Ažubalis Außenminister des freien Litauens, das seit 2004 Mitglied in EU und Nato ist, doch dieser Weg war nicht vorgezeichnet. Seit Michail Gorbatschow im Rahmen der Perestroika die Kontrolle Moskaus lockerte, hatten sich im Baltikum Volksbewegungen gebildet, die gegen die seit 1944 andauernde Besatzung protestierten.

Am 11. März - nach dem Wahlerfolg einer dieser Bewegungen, wagt das Land den nächsten Schritt. Die Sowjetrepublik Litauen erklärt sich für unabhängig. Die Abgeordneten berufen sich auf die Verfassung, die vor dem Zweiten Weltkrieg im freien Litauen galt - und warten ab.

"Es herrschte eine große Unsicherheit, denn niemand konnte wissen, wie Moskau reagiert", erinnert sich Ažubalis. Als ein litauischer Delegierter den Beschluss, der im Westen kaum Beachtung fand, in Moskau verkündete, reagierte der Volksdeputiertenkongress mit "Gelächter".

Die Führung um Gorbatschow erkannte jedoch, welche Sprengkraft in der Entscheidung lag und versuchte die abtrünnigen Balten durch eine Wirtschaftsblockade zum Aufgeben zu zwingen. Vergeblich: Die Litauer schützten im Januar 1991 das Parlament und den Fernsehturm mit ihren Körpern. Sie ließen sich auch nicht einschüchtern, als sowjetische Panzer durch die Menschenkette fuhr und 14 Menschen starben - im September 1991 erkannte auch Moskau die Unabhängigkeit der baltischen Staaten an. "Ohne die Unterstützung des Volks hätten wir diesen Sieg nicht erringen können", erinnert sich Außenminister Ažubalis.

Die Wirtschaftskrise und die Folgen

Heute, 20 Jahre später, ist in der Hauptstadt Vilnius trotz strahlendem Sonnenschein von großem Jubel nichts zu spüren, obwohl überall die gelb-grün-roten Fahnen aufgehängt sind und jeder Spaziergänger einen Anstecker mit den Nationalfarben trägt. Litauen wurde von der Finanzkrise hart getroffen, 2009 schrumpfte die Wirtschaft um dramatische 18 Prozent. Immer mehr Menschen können ihre Schulden nicht zurückzahlen, klagen über die Sparprogramme der konservativen Regierung und dass nach der Schließung des Atomkraftwerks Ignalina auch die Energiepreise steigen. Politiker und Experten kommen dennoch unisono zu dem Urteil: Litauens Entwicklung sei ein "echter Erfolg"

"Die größte Leistung ist es, unsere Unabhängigkeit bewahrt zu haben", analysiert Ažubalis, der seit einem Monat als Außenminister amtiert. Neben der Arbeit mit den Kollegen in EU und Nato wird er wie seine Vorgänger viel Zeit damit verbringen, die Entwicklung des großen Nachbarn Russland zu beobachten. Die Beziehungen zu Moskau seien recht gut, wenn es um juristische oder technische Fragen gehe - etwa beim Transit in die russische Exklave Kaliningrad.

In politischen Fragen bleibe es aber problematisch: "Die neue russische Militärdoktrin sieht die Nato als Feind an, das beruhigt uns nicht gerade", sagt Ažubalis zu sueddeutsche.de. Zudem habe im Sommer 2009 die größte Militärübung seit dem Ende des Kalten Kriegs stattgefunden: Etwa 30.000 Soldaten aus Russland und Belarus hätten nahe dem Baltikum für den Ernstfall trainiert.

Immerhin treffe man sich nun auf allen Ebenen regelmäßiger zu bilateralen Gesprächen - im Februar diskutierte Präsidentin Dalia Grybauskaite mit Russlands Premier Wladimir Putin. Dass Präsident Dmitrij Medwedjew die Einladung nicht annahm, am Nationalfeiertag am Donnerstag nach Vilnius zu kommen, war wenig überraschend. Immerhin nimmt Russlands Transportminister Igor Lewitin an der Festveranstaltung teil.

Kritik an EU-Partnern

Zuletzt sorgte der geplante Rüstungsdeal zwischen Frankreich und Russland für große Aufregung im Baltikum: Paris will vier Hubschrauberträger der Mistral-Klasse an Moskau verkaufen. Ažubalis ärgert vor allem, dass sein Land vom "strategischen Partner" in Paris nicht vorher konsultierte wurde. Allerdings sei man so etwas in Litauen gewöhnt, seufzt der 52-Jährige: "Bei der Ostseepipeline Nord-Stream war dies genau so."

Er appelliert an die großen EU-Staaten, sich besser abzustimmen und die kleineren Länder ernst zu nehmen. "Wir wünschen uns einen ehrlichen, offenen Dialog. Das ist alles", betont der Chefdiplomat und klopft energisch auf die Tischplatte. Dies sei der Grund, weshalb Litauen wie Estland und Lettland die USA als wichtigsten Verbündeten ansehen: "Wenn es um unsere Interessen geht, reden die Amerikaner mit uns. So einfach ist das."

Dass sein Land weltweit in die Schlagzeilen geriet, weil der US-amerikanische Geheimdienst CIA ein Geheimgefängnis nahe Vilnius unterhielt, trübt das bilaterale Verhältnis nicht. "Die Untersuchung des Parlaments zeigt, dass es einen solchen Ort gab. Es ist bisher nicht zu beweisen, ob dort Gefangene untergebracht wurden", berichtet der Außenminister. Immerhin wisse man nun mehr über die Schwächen der litauischen Demokratie: Die Geheimdienste müssten stärker vom Parlament kontrolliert werden, ein entsprechender Gesetzentwurf sei schon in Arbeit.

In einigen Reden haben litauische Politiker wie Ministerpräsident Andrius Kubilius an die Krisenzeiten nach dem 11. März 1990 erinnert, als die litauische Wirtschaft um mehr als die Hälfte einbrach. Allerdings überzeugt dieses Argument nur wenige: In den Boomjahren haben sich die knapp 3,4 Millionen Litauer an Urlaube, Handys und Restaurantbesuche gewöhnt. So wundert es kaum, dass immer mehr Balten in Großbritannien und Irland nach Arbeit suchen. Allein 2010, so schätzt die Statistikbehörde, werden 50.000 Menschen ihre Koffer packen und Litauen verlassen. Der Alltag der Freiheit kann sehr hart sein.

© sueddeutsche.de/gba - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: