Libyen:Gaddafis Herrschaft über Tripolis bröckelt

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Unsicherheit in Libyen: Wie viel Kontrolle hat Gaddafi noch? Offenbar entgleitet nun auch die Hauptstadt den Händen des Diktators. Unterdessen wächst der internationale Druck - die UN will rasch Sanktionen erlassen.

Muammar al-Gaddafis Einflussbereich wird immer kleiner: Libyens Machthaber hat nun offenbar auch die Kontrolle über Teile der Hauptstadt verloren. Am Samstag zogen sich seine Sicherheitskräfte Anwohnern zufolge aus dem Arbeiterviertel Tadschura in Tripolis zurück. "Alle in Tadschura sind gegen die Regierung auf die Straße gegangen. Wir haben gesehen, wie sie unser Volk hier und überall im Land getötet haben", sagte ein 25-jähriger Mann. "Wir werden weiter demonstrieren. Heute, morgen, übermorgen - bis sie sich ändern."

Am Freitagabend hätten die Sicherheitskräfte noch auf Demonstranten geschossen, die sich auf den Weg zum Grünen Platz im Zentrum der Stadt gemacht hätten. Dabei seien fünf Menschen ums Leben gekommen, sagte der Augenzeuge. Eine Bestätigung für diese Zahl gab es nicht. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen sind in ganz Libyen bislang mindestens 1000 Menschen bei den Unruhen getötet worden.

Die Schilderungen aus Tripolis stehen in Kontrast zu den jüngsten Aussagen eines Sohnes von Gaddafi. "Frieden kehrt in unser Land zurück", sagte Saif al-Islam al-Gaddafi am Freitag vor eigens nach Libyen eingeflogenen Journalisten. Er hoffe, dass es zu keinem weiteren Blutvergießen kommen werde. "Bis morgen gibt es eine Lösung", sagte er. Zuvor hatte sein Vater seine Gefolgsleute zum Durchhalten aufgerufen.

Beweise für Gräueltaten werden vernichtet

Tripolis ist die letzte große Stadt in Libyen, die Gaddafi noch geblieben ist. Seine Gegner sollen bereits weite Landesteile im Osten im Griff haben. Auch mehrere Städte westlich von Tripolis werden inzwischen von Aufständischen kontrolliert, berichtet Reuters. Nach Angaben der Nachrichtenagentur dpa kontrollierten die Truppen des libyschen Staatschefs nur noch wenige Städte im Westen des Landes. Neben der Hauptstadt waren dies unter anderem Gadames, Sebha und Gaddafis Heimatstadt Sirte.

Insgesamt ist die Lage unübersichtlich, nicht zuletzt, weil Gaddafis Truppen versuchen, Informationsflüsse zu kappen. Tausende von Ausländern flohen mit Unterstützung ihrer jeweiligen Regierungen aus Libyen. An den noch von Gaddafi-Getreuen kontrollierten Grenzübergängen mussten Ausländer aber Mobiltelefone und Speicherkarten aus Kameras abgeben - offenkundig sollten Beweise über Gräueltaten der Sicherheitskräfte vernichtet werden.

Die New York Times berichtet, dass Sicherheitskräfte Tote und Verletzte aus Krankenhäusern abtransportiert hätten, um das wahre Ausmaß der Gewalt zu verschleiern.

Die Gaddafi-Familie sendet zudem äußerst widersprüchliche Signale. Einmal sprach Muammar al-Gaddafi davon, "das Volk" zu bewaffnen, während sein Sohn Saif al-Islam eine Offensive im Osten des Landes ankündigte, wo die Gaddafi-Truppen keinerlei Präsenz mehr haben. Er beschimpfte Regimegegner und Demonstranten als Terroristen. "Das sind Terroristen. Sie wollen keine Verfassung, sie wollen keine Menschenrechte, sie wollen keine Freiheit", sagte er am Samstag dem arabischen Fernsehsender al-Arabija. Nach Darstellung des 38-Jährigen haben Ausländer die "traurigen Ereignisse" zu verantworten.

Der libysche Staatschef soll sich gemeinsam mit letzten loyalen Einheiten und Anhängern in der libyschen Hauptstadt Tripolis verschanzt haben Für Berichte des arabischen Fernsehsenders Al-Dschasira, wonach auch loyale Anhänger in der Bevölkerung bewaffnet werden, gab es keine unabhängige Bestätigung.

Die renommierte islamische Al-Azhar-Universität in Kairo rief unterdessen regierungstreue Soldaten in Libyen auf, alle Befehle zum weiteren Blutvergießen zu verweigern. Das Regime habe seine Legitimität verloren, sagte das geistliche Oberhaupt, Ahmed al-Tajeb. Der Großscheich rief alle Araber weltweit auf, dem libyschen Volk medizinische und humanitäre Hilfe zu leisten. Die al-Azhar gilt im sunnitischen Islam bei Rechtsfragen als die höchste Instanz.

Die internationale Gemeinschaft erhöhte inzwischen den Druck auf den libyschen Diktator - allen voran die USA. Sie verhängten noch vor UN und EU Sanktionen gegen die Führung des nordafrikanischen Staates. Auch der UN-Sicherheitsrat kommt seinem Ziel näher, Sanktionen gegen das libysche Regime noch am Wochenende in Kraft zu setzen. Das 15-Länder-Gremium in New York kehrte am Samstag an den Verhandlungstisch zurück.

Wunschdenken der Bevölkerung: In Bengasi wird der Sturz Gadaffis bereits mit Graffiti herbeigesehnt. (Foto: REUTERS)

Der Resolutionsentwurf richtet sich gegen Staatspräsident Muammar al-Gaddafi und 22 seiner engsten Vertrauten. Dem Clan drohen bei weiterer Gewalt gegen Zivilisten Einreiseverbote und die Sperrung ihrer Auslandskonten. Darüber hinaus will das höchste UN-Gremium ein Waffenembargo gegen Libyen verhängen.

Ob die Gräueltaten des Gaddafi-Clans und seiner Gefolgsleute an den Internationalen Gerichtshof in Den Haag verwiesen werden sollten, wurde noch erörtert. Deutschland ist seit Jahresbeginn im Sicherheitsrat und besteht darauf, dass die Gaddafis nicht straffrei bleiben.

Nächste Woche wird die UN-Vollversammlung über die Empfehlung des UN-Menschenrechtsrates abstimmen, Libyen aus dem Gremium in Genf auszuschließen. Dieser Vorgang ist einmalig in der Geschichte der Vereinten Nationen und geht auf die Gräueltaten des Regimes an der eigenen Bevölkerung zurück. Für den Ausschluss aus dem Menschenrechtsrat müssen zwei Drittel der 192 Mitgliedsländer stimmen.

Der französische UN-Botschafter Gérard Araud zeigte sich überrascht über die im höchsten Gremium herrschende Einmütigkeit. "Das gleicht einem Erdbeben: Es geschieht etwas, nicht nur in der arabischen Welt, sondern auch innerhalb dieser Organisation", sagte Araud. Niemand im UN-Sicherheitsrat habe etwas gegen die geplanten Sanktionen einzuwenden. Offen sei derzeit nur noch die Frage, in welcher Form der Internationale Strafgerichtshof angerufen werden solle.

Das französische Außenministerium teilte am Samstagabend in einer Erklärung mit, Paris habe seine Beziehungen zur Regierung des libyschen Staatschefs abgebrochen. Das Botschaftspersonal in Tripolis sei evakuiert worden. Auch Großbritannien hat seine Botschaft in Tripolis vorübergehend geschlossen. Die USA hatten am Freitag erklärt, dass ihre Botschaft in Tripolis ihre Arbeit eingestellt habe. Allerdings stellte das State Departement klar, die US-Botschaft sei nicht geschlossen.

Aus dem Auswärtigen Amt hieß es, die deutsche Botschaft in Libyen sei zwar personell ausgedünnt. Die verbliebenen Mitarbeiter seien jedoch weiterhin gemeinsam mit dem Krisenstab in Berlin im Einsatz, um deutsche Staatsbürger bei der Ausreise aus Libyen zu unterstützen. Die Bundeswehr beteiligte sich mit zwei Transall-Transportmaschinen an einer Evakuierungsaktion für in Libyen festsitzende Ausländer. Nach Angaben des Auswärtigen Amtes wurden am Samstag 133 Ausländer in Sicherheit gebracht, unter ihnen Dutzende Deutsche und EU-Bürger.

Obama fordert in Telefonat mit Merkel Abgang Gaddafis

US-Präsident Barack Obama hat am Samstag in einem Telefongespräch mit Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) den Rücktritt des libyschen Herrschers gefordert. Wie das Weiße Haus mitteilte, sagte er der Bundeskanzlerin, dass wenn ein Herrscher Gewalt gegen das eigene Volk anwenden müsse, um sich an der Macht zu halten, er das Richtige für sein Land tun und es sofort verlassen sollte. Es war das erste Mal, dass Obama offen die Abdankung Gaddafis forderte.

Merkel und Obama seien darüber einig, dass Gaddafi jegliche Legitimität verloren habe, teilte der stellvertretende Regierungssprecher Christoph Steegmans am Abend in Berlin mit. Seine gegen die eigene Bevölkerung gerichteten Aktionen müssten endlich ein Ende finden.

Auch Außenminister Guido Westerwelle, FDP, forderte den libyschen Herrscher zum Machtverzicht auf. "Eine Herrscherfamilie, die so brutal einen Krieg gegen das eigene Volk führt, ist am Ende. Der Diktator kann nicht bleiben", sagte Westerwelle der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Das libysche Volk müsse dann aber selbst entscheiden, wer es in Zukunft regiere, fügte Westerwelle hinzu. Schon der Anschein westlicher Einmischung schwäche diejenigen, "die mutig für die Freiheit kämpfen".

Zufrieden zeigte sich der FDP-Politiker, dass sich nun auch die Europäische Union auf Sanktionen gegen Libyen verständigt hat. Allerdings sei die EU dabei "am Anfang zu zögerlich" gewesen. Deshalb habe Deutschland zusammen mit anderen Staaten auf einen schärferen Kurs gedrängt. Nun müsse die formale Beschlussfassung zügig Anfang der Woche folgen, forderte Westerwelle.

Immer weniger glaubt die internationale Gemeinschaft, dass sich Gaddafi halten kann. Die Kontrolle über die Ölförderung ist ihm bereits entglitten In Folge der Unruhen ist die sie an einigen ostlibyschen Ölfeldern einem Manager um mehr als die Hälfte zurückgegangen. Nach Angaben aus der Ölindustrie außerhalb Libyens sind die Exporte aus dem zwölftgrößten Förderland der Erde seit dem Beginn des Aufstandes praktisch zum Erliegen gekommen. Libyen ist für zwei Prozent der weltweiten Produktion verantwortlich. Der größte Teil der Felder liegt im Osten des Landes, über den Gaddafi die Kontrolle verloren hat. Die Sorge vor einer Ölkrise nahm zum Wochenschluss leicht ab. Der weltgrößte Ölexporteur Saudi-Arabien will für die libyschen Ausfälle einspringen.

© Reuters/AP/dpa/AFP/grc - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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