Liberia:Das lange Warten auf Charlyman

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Nach zwanzig Jahren Krieg und Angst beten die Menschen nicht nur im Freimaurertempel um Hilfe von Gott - oder von den Amerikanern

Arne Perras

(SZ vom 21.7.2003) Monrovia, im Juli - Die Dünung wiegt das Boot sanft hin und her, und vom Bug aus kann man schon hinüberblicken nach Monrovia. Noch liegt die Stadt nur als schattenhafter Umriss da, es werden einige Stunden vergehen, bis das Bild schärfere Konturen gewinnt. Noch hat die Mannschaft also Zeit, die Gin-Flasche herumzureichen, noch kann Captain Saidu auf der Brücke dösen und der Sicherheitschef an Bord seine Witze erzählen, über die außer ihm keiner lacht. Und die Passagiere, zwei humanitäre Helfer von Kap Anamur und ein Journalist, haben Gelegenheit, sich in der Morgenbrise von der VIP-Lounge zu erholen, die sie in den letzten 33 Stunden unter Deck bewohnt haben.

Die VIP-Lounge ist ein schimmeliges Loch, mit einem Doppelbett, einem Tisch, zwei Bänken und drei Bullaugen. Rattenpisse verschlägt einem dort unten den Atem, und auch die große Spray-Dose "Insect-Killer"" hat sich als wertlos erwiesen, angesichts der vielen Kakerlaken, die die speckige Matratze besetzt halten. Gut, dass wir jetzt an Deck durchatmen können - und doch wird es später Momente in Monrovia geben, in denen wir uns zurücksehnen werden in den Bauch der "Madame Monique".

Mord für eine Handvoll Reis

Die Hilfsorganisation Kap Anamur hat das kleine Fährschiff in Freetown, Sierra Leone, gechartert. In den Laderäumen liegen 100 Tonnen Fracht: Reis, Salz, Zucker, Proteinkekse und Öl. Vielleicht, hofft Kap Anamur-Chef Elias Bierdel, kann diese Fahrt der Beginn eines Pendelverkehrs werden, um die Not in Monrovia wenigstens etwas zu lindern.

Die erste Überfahrt war stürmisch, eine Nacht lang warf der Atlantik das Schiff hin und her, mächtige Wellen schlugen über das Deck. Und noch weiß niemand an Bord, ob die Ladung trocken geblieben ist. Und dann Monrovia: Eine Stadt, in der Menschen wegen einer Handvoll Reis ermordet werden.

Dort große Mengen Nahrung anzulanden, ist ein riskantes Unternehmen, das bestens vorbereitet sein will. Deshalb ist die Ladung direkt an die US-Botschaft in Monrovia adressiert, was sie gewissermaßen unantastbar machen soll.

Um die "Madame Monique" herum paddeln Fischer in ihren Einbäumen, sie haben Leinen ausgelegt, um Barrakudas zu fangen. Neben uns fischt Victor, ein älterer Mann in zerrissenem roten T-Shirt, der nach einer Weile herüberrudert und fragend die Hand ausstreckt "Got some brea', ma'?" Victor strahlt, als wir einen Fisch gegen eine Packung Toast eintauschen.

Wie es denn aussieht, dort drüben in der Stadt? "Everybody wait for Charlyman", sagt Victor und kichert, "but Charlyman afraid". Charlyman, das ist der Amerikaner, die US-Truppe, die Präsident George Bush dem geschundenen liberianischen Volk versprochen hat.

In der Nacht vor unserer Abfahrt in Freetown konnte man am Flughafen zwar sehen, wie ein paar hundert US-Soldaten aus dem Bauch einer Galaxy kletterten. Auch ein paar Marine-Hubschrauber hat Washington nach Sierra Leone beordert, die in der Bucht vor Freetown ihre Übungsflüge absolvieren. Doch ob und wann die Truppen ins benachbarte Liberia kommen werden, ist offen.

Kurz nach Mittag kommt endlich der Funkspruch vom Hafen, Captain Saidu wirft den Diesel an, und die "Madame Monique" tuckert langsam durch das Hafenbecken zum Kay. Seit Wochen hat dort kein Schiff mehr angelegt, und dass die Massen nicht an die Mole strömen, liegt daran, dass das Hafengelände weiträumig abgesperrt ist. Was nicht verhindert, dass sich unter das Empfangskomitee auch solche Leute mischen, deren nähere Bekanntschaft man lieber vermeiden würde.

"One million ways to death" steht in weißer Farbe auf einem der beiden grünen Toyota-Pickups, die vor dem Hafenbüro stehen. Ein Dutzend halbstarke Kämpfer sitzen auf den Ladeflächen, manche nicht älter als acht oder neun. Sie tragen Sonnenbrillen, bunte Pudelmützen und Baseball-Käppis, alle tragen sie eine Kalaschnikow, zwei hantieren mit Panzerfäusten.

Die Jungs könnten das jähe Ende dieser Mission bedeuten, aber auf einmal pfeift einer von ihnen, und die beiden Wagen fahren mit quietschenden Reifen davon.

Die Kindersoldaten gehören zu den Milizen von Präsident Charles Taylor, der immer noch als Herr in Monrovia residiert. Dass uns seine Miliz nicht weiter belästigt, mag auch damit zu tun haben, dass der stellvertretende Gesundheitsminister im Hafen steht, um das Schiff zu empfangen. Doktor Nathanael Bartee ist ein massiger Mann, mit einer Baseballmütze auf dem Kopf. "Welcome to Monrovia", grinst er und scheucht sogleich die Leute von der Einreisebehörde aufs Schiff, damit die Formalitäten rasch erledigt werden.

Container werden herangefahren, und bald wird ein Dutzend Arbeiter damit beginnen, Sack für Sack an Land zu schleppen.

Vom Hafen führt eine breite Straße über eine rostige Metallbrücke ins Zentrum der Stadt. Die meisten Geschäfte haben ihre Tore verriegelt, die Mauern sind übersät mit frischen Einschusslöchern, Kämpfer der Rebellengruppe Lurd und Regierungstruppen haben sich hier mehrfach heftige Gefechte geliefert. Aber an diesem Mittwoch ist es ruhig, die Gegner Taylors haben sich an den Stadtrand zurückgezogen.

Monrovia ist gefangen zwischen zwei wütenden Kriegsparteien, die sich belauern und blitzschnell zuschlagen können. Drinnen herrschen die Taylor Boys, draußen die Kämpfer der Lurd. Dazwischen ringen Hunderttausende Menschen um ihr Leben, zum Beispiel die 16-jährige Massa. Sie sei gerannt und gerannt, erzählt sie.

Das Mädchen lebte in einem Flüchtlingslager nördlich der Stadt, bis die Rebellen vorrückten und Zehntausende erneut vertrieben. Ihre Eltern hat sie irgendwo auf dem Weg verloren, keiner kümmert sich um sie. Auf ihrem Knie sitzen eitrige Beulen, aus denen Flüssigkeit tropft. Mit tausend anderen Flüchtlingen sitzt Massa dicht gedrängt in der hohen Eingangshalle des Freimaurer-Tempels in der Benson Street.

Es stinkt nach Schimmel, Urin, Kot und Schweiß. Überall sitzen kleine Kinder auf dem bloßen Beton, sie schreien, weinen, wimmern. Fragende Augen fixieren die Besucher. Eine alte Frau an der Tür hebt flehend die Hand, sie spricht kein Wort.

Das Gebäude erinnert von außen ein wenig an das Weiße Haus in Washington, und aus Amerika kamen sie ja auch einst, die Gründer des Staates Liberia. Als Nachfahren freigelassener Sklaven gründeten sie 1847 an dieser Küste ihre eigene Republik. Hier waren die Sklaven von einst auf einmal Herren mit ungekannter Macht, mit Frack und Melone stolzierten die Americo-Liberianer durch ihre Stadt, die sie nach dem ehemaligen US-Präsidenten James Monroe benannten.

Jahrzehntelang war es dieser Freimaurer-Tempel, der die Macht der schwarzen Immigranten-Elite symbolisierte. Heute ist das Gebäude runtergekommen, die Fenster zertrümmert, stattdessen hängen Planen herunter, als notdürftiger Schutz gegen die Nässe. Immer wieder entladen sich gewaltige Wassermassen über der Stadt. Dann verwandeln sich die Gossen in stinkende Sturzbäche, die lehmigen Wege in Morast. Wenn die Vertriebenen Glück haben, kommt hier manchmal ein Tankwagen mit Wasser vorbei, aber nur noch wenige humanitäre Helfer harren in der Stadt aus, zum Beispiel ein Team von "Ärzte ohne Grenzen". Die großen UN-Organisationen haben schon vor Wochen ihr internationales Personal abzogen. Nur wenige von ihnen sind zurückgekehrt.

Vom Freimaurer-Tempel fahren wir zur US-Botschaft, die sich eingebunkert hat hinter einer grauen Mauer und Stacheldraht. Zum Botschaftsgelände gehört auch das Vertriebenen-Camp Greystone, das man durch ein großes schwarzes Tor betritt. Auf dem schlammigen Pfad durch das Camp steht ein Mann in Anzug und Krawatte: "Ich habe eine Botschaft für Euch, hört meine Botschaft." Bestimmt steht der Evangelisten-Prediger hier schon eine ganze Weile, seine Stimme krächzt heiser: "Bald werdet ihr gehen müssen, so wie eure Brüder und Schwestern gehen mussten, deshalb hört meine Botschaft: Rettet unseren Gott." Kein Mensch achtet auf den Mann.

Es ist nicht so, dass die Menschen hier nicht an Gott glaubten. Aber sie klammern sich lieber an den Umkehrsatz des Predigers: "Gott wird uns retten", sagen sie. Und wenn es der Herr nicht tut, dann eben George Bush. "Wir sehnen uns die Amerikaner herbei", sagt der Vertriebene MacDonald K. Jaah. "Was soll ohne sie aus unseren Kindern werden?" Wohin wir auch kommen, überall beten sie die US-Truppen herbei.

Die Menschen haben nach zwanzig Jahren Chaos und Krieg die Herrschaft der Warlords satt. Zwar hätten sie es gerne, wenn die Rebellen Charles Taylor verjagten. Aber die Lurd als Regierung, das kann sich auch niemand vorstellen. Deshalb hoffen alle auf eine US-Schutztruppe, die Ordnung schafft. Taylor, der wegen Kriegsverbrechen von einem Sondergericht in Sierra Leone angeklagt ist, hat zwar zugesagt, er gehe ins Exil nach Nigeria.

Doch das will er erst tun, wenn die Amerikaner in Monrovia sind. Bush hingegen pocht darauf, dass Taylor geht, bevor US-Truppen landen. Ein politisches Patt, das die Stadt immer tiefer ins Elend treibt.

Wer durch Monrovia fährt, sieht fast nur Männer auf den Straßen, die Frauen haben Angst, weil die Milizen rauben und vergewaltigen, wie es ihnen passt. Eineinhalb Millionen Menschen drängen sich in der Stadt, die eigentlich nur für 300 000 Menschen angelegt ist. Sie hausen überall, im Fußballstadion, auf den Plätzen und in den vielen ausgebrannten und zerschossenen Ruinen, die Monrovia seit dem Bürgerkrieg zeichnen.

Neben den Pickups der Soldaten fahren eine Menge gelber Taxis herum und wenige andere Autos, unter ihnen auch der edle blaue Mercedes eines jungen Autohändlers, den wir in diesen Tagen kennen lernen. Das Geschäft sei schon mal besser gelaufen, muss er zugeben. Es herrsche Aufbruchstimmung unter den Ministern. "Jeder weiß, dass die zusammen packen."

Der Mann spricht ein gedehntes Englisch, so wie im Süden der USA. Er habe eine große Schwäche für deutsche Autos, sagt er, und streichelt über den Lack seines Mercedes. Allerdings erfordern liberianische Verhältnisse mancherlei Zusatzausstattung. Für das optimale Raumklima hat der Mann zwei WC-Frisch auf das Armaturenbrett geklebt. Was sonst soll man tun gegen den Gestank, der Monrovia durchzieht.

Stadtauswärts in Congo Town passieren wir die Residenz des Präsidenten, ein dunkelgrauer Bau, vor dem ein Armada schwarzer, aufpolierter Toyota-Jeeps geparkt ist. Die Front ziert eine Leuchtschrift, die zwar nicht erhellt ist, aber doch für jedermann lesbar: "Seasons greetings", steht dort: Frohes Fest. Entlang der großen Straßen strahlt das Taylor-Face von großen Blechtafeln herunter. Einmal betätigt er sich als fleißiger Bauer, der Reis pflanzt.

Ein andernmal überwacht er als Chef-Ingenieur den Aufbau der Stadt, was besonders bemerkenswert ist, weil Monrovia vermutlich die einzige Hauptstadt der Welt ist, in der es seit Jahren keinen Strom und kein Wasser für die Bürger gibt. "Auch deshalb sind die meisten Leute heute gegen Taylor, er hat nur seine Jungs bezahlt und sich selbst bereichert", sagt ein Händler. "Die Leute sind ihm völlig egal."

Es ist Zeit, in den Hafen zurückzufahren, weil sich dort das Entladen der Fracht verzögert. Auf einmal rollt ein weißer Jeep heran, mit Satellitenschüssel auf dem Dach. Eskortiert wird das Auto von einem Wagen des liberianischen Generalstabs, auf dem sechs bewaffnete Soldaten sitzen.

Aus dem weißen Auto steigt eine weißhaarige Frau, in vollem Kampfanzug, Colonel Sue Ann Sandusky, Militär-Attaché der US-Botschaft. Sie hätte ja schon gehört von diesem Schiff, sagt sie, ein gute Sache, und wenn die Kap-Anamur-Leute Hilfe bräuchten, sollten sie einfach anrufen. Sagt sie und fährt wieder davon.

Kämpfen bis zum Ende

Später wird der stellvertretende Gesundheitsminister noch öfter in den Hafen fahren, um die Beamten davon abzuhalten, ständig neue Unterschriften einzufordern. "Das ist das erste Schiff seit Wochen, ist doch klar, dass da jeder mitverdienen will", sagt Kap-Anamur-Chef Bierdel. Aber das wolle er auf keinen Fall zulassen. Sein Glück ist, dass er den Gesundheitsminister auf seiner Seite hat. "Wer weiß, warum der uns gewogen ist.

Vielleicht will er es sich mit den Amerikanern nicht verderben." Wir müssen in Monrovia übernachten, und am nächsten Morgen tauchen immer mehr Soldaten auf, düstere Kunde von neuen Kämpfen, die der Stadt drohen. Ein Charterflugzeug soll uns noch an diesem Donnerstag herausholen. Keine Minute zu früh, denn auf dem Weg zum Flughafen erreicht uns die Nachricht, dass die Rebellen eine neue Offensive gestartet haben und in Richtung Hafen vorrücken.

Zwei Tage später, als wir außer Landes und in Sicherheit sind, werden wir im Radio hören, dass Charles Taylor sich wieder seinem Volk gezeigt hat. Nicht als Reisbauer oder Stadtingenieur, sondern im Tarnanzug mit schusssicherer Weste. Er will kämpfen. Wenn es sein muss bis zum Ende.

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