Krieg in Syrien:Auf den Spuren des IS

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Raqqa, eine ehemals lebendige Stadt, ist heute von Ruinen und Elend geprägt. (Foto: Volkmar Kabisch/NDR)

Raqqa war die Hauptstadt des IS. Mittlerweile ist sie befreit - und doch noch voller Todesfallen. Über geheime Scharia-Akten im Keller, Minen-Graffiti und ein Fußballmatch im ehemaligen Foltergefängnis.

Von Georg Mascolo und Volkmar Kabisch, Raqqa

Das syrische Raqqa war Hauptstadt, Regierungszentrale und Machtzentrum des sogenannten "Islamischen Staates" (IS). Die Befreiung im Oktober des vergangenen Jahres war eine Weltnachricht, ein Symbol für den Niedergang des IS, der zeitweise über ein Gebiet von der Größe Großbritanniens und über sieben Millionen Menschen herrschte.

Aber was ist aus den Menschen von Raqqa geworden, wer hilft ihnen? Hilft ihnen überhaupt jemand?

Und was wurde aus dem Plan einer internationalen Geheimdienst-Koalition, die Hinterlassenschaften des IS zu sichern, die Akten, Mitgliederlisten, die Bürokratie des Terrors, die man nun benötigt, um den überlebenden IS-Mitgliedern - darunter Hunderten Deutschen - den Prozess zu machen?

Als deutscher Reporter muss man viele Fragen beantworten

Eine Reise nach Raqqa dauert lang, es geht über den Nordirak, von dort setzt man mit einem alten Landungsboot über den Tigris, schließlich mit dem Auto Hunderte Kilometer durch Syrien. Es geht nur mit Genehmigung und Begleitung der Kurden-Milizen, die diese Gebiete befreit haben.

Als deutscher Reporter muss man viele Fragen beantworten: Die syrischen Kurden sind eng mit der PKK verbunden, die in Deutschland als terroristische Organisation gilt. Warum also, fragt ein kurdischer Offizieller, bekämpfen wir auch für euch Deutsche den IS, während ihr das Zeigen unserer Fahne unter Strafe stellt? Zum Glück kommt der Tee. Dann steht man vor dem Ortsschild: "Al Raqqa".

Ein Besuch der Stadt folgt strengen Regeln. Tausende von Sprengfallen, mit denen der IS die Stadt verminte, sind bis heute nicht geräumt. Die hastig an die noch stehenden Häuserwände gesprühten Wörter "cleared" oder "uncleared" sind die Wegweiser, die den Unterschied zwischen Leben und Tod machen.

Vor allem das Stadtzentrum von Raqqa ist eine Trümmerwüste, zerschossen, zerbombt, ohne Strom und fast überall ohne fließendes Wasser. Und doch sind nach Schätzungen der UN bereits 100 000 der Bewohner zurückgekehrt. Niemand hilft ihnen.

Die Befreiung Raqqas war eine Priorität für die internationale Gemeinschaft. Die Menschen von Raqqa sind es nicht. Erst müssten die Minen geräumt werden, heißt es, sonst könne man keine Helfer in die Stadt schicken. Aber niemand räumt die Minen. So versuchen es die Zurückgekehrten selbst, jeden Tag gibt es Tote. In Raqqa wird immer noch gestorben.

Auch die Reporter müssen vorsichtig sein. Niemals auf ein Kabel oder ein Stück Metall treten, es könnte der Mechanismus zum Auslösen einer Sprengfalle sein.

Raqqa ist noch voller IS-Dokumente

Es ist eine von vielen Reisen, die ein Team von Süddeutscher Zeitung, NDR und WDR in den vergangenen Jahren in die Region unternommen hat. Sie führten an die Fronten des Kampfes gegen den IS im Irak und in Syrien, sie förderten Tausende Dokumente des Terror-Staates zutage, darunter eine Art Mitgliederliste des IS. Oder die Schul- und Universitätspapiere des selbsternannten Kalifen und Anführers des IS, Abu Bakr al-Baghdadi, der noch immer auf der Flucht sein soll.

Raqqa ist noch voller IS-Dokumente. Man findet sie in den Kellern einer Kirche, in der ein Scharia-Gericht tagte oder halbverbrannt, aber noch gut lesbar überall in den Schuttbergen. Gerade erst sind aus dem irakischen Erbil zwei deutsche Frauen ausgeflogen worden, aber es reicht nicht für einen Haftbefehl, man weiß nicht, was sie beim IS taten. Würden die hier herumliegenden Dokumente diese Frage beantworten?

Man sucht nach den Spuren der deutschen IS-Kämpfer, Hunderte lebten zeitweilig in Raqqa, besonders gern in der Nähe des "Paradies-Platzes", auf dem ständig Hinrichtungen stattfanden und die Köpfe der Enthaupteten auf einem Zaun aufgespießt wurden. Die Häuser rund um den Platz liegen in Trümmern, der Zaun steht noch.

Über den Rand der Arena ragen die Ruinen der Stadt heraus

Ein ostdeutscher Schweißer namens Martin Lemke soll beim berüchtigten IS-Geheimdienst hoch aufgestiegen sein. Das Nationalstadion von Raqqa war das Foltergefängnis dieses Geheimdienstes, die Delinquenten saßen ein, wo sich früher die fußballbegeisterten Raqqawis in ihre Trikots zwängten. Es ist ein schrecklicher Ort, die Wände voller Kritzeleien der Insassen, der Patronenhülsen, ein Metallgestell, auf das die Gefangenen gebunden und ausgepeitscht wurden.

Von oben ist Musik zu hören, das Nationalstadion gehört zu den wenigen bereits vollständig von Minen geräumten Orten, also wird auch wieder Fußball gespielt. Heute geht es gegen Tabka, den ewigen Rivalen. Die kurdischen Begleiter drängen zum Aufbruch, über Nacht kann man nicht in der Stadt bleiben, zu gefährlich. Aber die Raqqawis lachen, winken, wollen die deutschen Besucher nicht gehen lassen. Erst einmal sollen sie eine Runde mitspielen, zum Aufwärmen, bevor der eigentliche Gegner kommt.

Und so startet ein Match auf einem Platz aus nackter Erde, auf dem noch die Spuren der Panzerketten zu sehen sind. Das Wellblech des Stadiondachs hängt in Fetzen herunter, die Tribünen sind von Einschüssen übersät, über den Rand der Arena ragen die Ruinen der Stadt heraus.

Man würde gern schreiben, dass die deutschen Gäste bei dem Übungsspiel den Unterschied gemacht hätten. Aber als Reporter hält man sich an die Fakten.

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