Kommunismus-Experte zu China:Was Pekings Führung mit Dagobert Duck verbindet

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Die Spitze der chinesischen Staatspartei sitzt auf Devisenreserven im Wert von drei Billionen Dollar. Damit ist sie in die Fußstapfen des einstigen Adels getreten. Die neuen Mittelschichten haben das längst durchschaut. Davon zeugen die täglich 300 "Zwischenfälle mit Massencharakter" im ganzen Land - Tendenz steigend.

Gerd Koenen

Im Herbst dieses Jahres wird die Welt einen neuen Stabwechsel an der Spitze der Kommunistischen Partei Chinas erleben - und damit automatisch auch an der Spitze des Staates. Hinter den Kulissen, in die niemand hineinschauen darf, gibt es offenkundig harte Fraktions- und Positionskämpfe, obwohl der Übergang doch seit Langem geregelt zu sein schien. Verhaftungen im hohen Parteimilieu wie unter Bürgerrechtlern, die legale Ausweitung polizeilicher Befugnisse, eine immer schärfere Kontrolle der Blogosphäre und des Internet zeugen von anhaltender Nervosität - und das angesichts einer (scheinbar) beispiellosen Erfolgsgeschichte.

Der Autor Gerd Koenen, 67, hat sich in zahlreichen Veröffentlichungen mit dem Kommunismus beschäftigt. Derzeit arbeitet er an einem Buch über dessen Geschichte. (Foto: oh)

Aber um welchen Preis und durch welch radikale Brüche hindurch! Man erinnere sich: Als Mao Zedong 1976 starb und die Erde bebte, schien seine Partei nach dem blutigen Chaos der Kulturrevolution das "Mandat des Himmels" verloren zu haben.

Seine Nachfolger unter dem "kleinen Steuermann" Deng Xiaoping gingen binnen kürzester Zeit daran, exakt die Politik des "kapitalistischen Wegs" zu verfolgen, gegen die die maoistische Kulturrevolution sich gerichtet hatte. Die Volkskommunen wurden aufgelöst, lokale Betriebe durften gegründet werden und Gewinne machen, auch die staatlichen Betriebe sollten selbständig operieren. Alles schien auf eine schrittweise Liberalisierung zu deuten, der eine Demokratisierung folgen würde.

Als aber im Frühsommer 1989, beflügelt von den Gärungen im sowjetischen Lager, die intellektuelle Unruhe unter den Studenten sich mit der sozialen Unzufriedenheit unter den Arbeitern und Teilen der städtischen Bevölkerung (vor allem wegen steigender Preise für Grundgüter des Lebens) verband, schlug die Kommunistische Partei diese Bewegung, die sich auf mehr als 200 Städte ausgedehnt hatte, mit demonstrativer Brutalität militärisch nieder.

Das Massaker vom Tienanmen im Juni 1989 war ein zweifaches Signal: Es besagte, dass die Partei nicht bereit war, auch nur ein Quäntchen ihrer Macht abzugeben; weshalb es bis heute in der VR China politisch keine tatsächliche Wahlfreiheit gibt.

Überdimensionale "Werkbank der Welt"

Zweitens demonstrierte die Partei, dass sie allen sozialen Selbstverteidigungs- und Selbstvertretungsinitiativen der "arbeitenden Massen" mit aller Härte entgegentreten würde. Das erst ermöglichte Deng und seinen Verbündeten gegen viele Widerstände die endgültige Öffnung Chinas zum kapitalistischen Weltmarkt und seine Verwandlung in eine überdimensionale "Werkbank der Welt".

Das Ergebnis war beispiellos: Inzwischen ist die Volksrepublik China die erste Exportnation und zweite Wirtschaftsmacht der Erde. Bei diesem Zug zur Weltmacht ist die jährliche Investitionsrate auf die absurde Höhe von mehr als 50 Prozent des Bruttosozialprodukts gestiegen - während die Konsumrate auf global einmalige 35 Prozent gefallen ist.

Trotz steigender Einkommen sparen die Menschen mangels sozialer Sicherungen: für das Alter, für Krankheiten, für die Ausbildung der Kinder, für eine Wohnung. Im "Gini-Index" für soziale Ungleichheit schneidet die Volksrepublik denn auch miserabel ab - weitaus schlechter als die einstigen antikommunistischen Frontstaaten Südkorea oder Taiwan, deren Pro-Kopf-Einkommen noch immer ein Mehrfaches beträgt und viel gleicher verteilt ist. Dafür sitzt die Pekinger Führung wie Dagobert Duck auf Devisenreserven von mehr als drei Billionen Dollar.

Gala-Show im Juni 2011 in Peking zum 90. Gründungsjubiläum der Kommunistischen Partei. (Foto: Getty Images)

Was sagt uns das alles? Zunächst einmal nur, dass man in Bezug auf ideelle Selbstzuschreibungen einer Partei, die auch im Programm von 2007 noch "das Endziel des Kommunismus" stehen hat, ähnlich skeptisch sein darf wie bei jeder anderen religiösen oder weltanschaulichen Partei.

Auch in der maoistischen Periode waren die myriadischen Massen der Arbeiter und Bauern niemals Subjekte, sondern das menschliche Material, um "die Revolution zu machen" und das Ziel zu erreichen, das Mao bei der Proklamation der Volksrepublik am 1. Oktober 1949 allem voranstellte: "China hat sich endlich wieder erhoben."

Radikalerer Bruch als unter Mao

Dieses Ziel hat er, unter unendlichen Menschenverlusten und sozialkulturellen Verwüstungen, tatsächlich erreicht. Und dieses Ziel haben seine Nachfolger seit Deng unbeirrt weiterverfolgt - mit einiger strategischen Klugheit und unbestreitbaren Erfolgen. Faktisch trat die Kommunistische Partei Chinas damit in die Fußstapfen jenes konfuzianisch gebildeten Beamten- und Dienstadels, der von jeher die Machtvertikale des ältesten Reiches der Welt gebildet hatte.

Durch die extrem weltmarktorientierte Industrialisierung und Urbanisierung des Landes dürfte inzwischen aber ein sehr viel radikalerer Bruch im Gesellschaftsaufbau eingetreten sein, als die radikalsten Experimente Maos jemals hätten bewirken können.

Neben ökonomischen, ökologischen, demografischen Indikatoren, die auf die Grenzen dieses postkommunistisch-ultrakapitalistischen Wachstumsmodells verweisen, gibt es kulturelle, moralische und mentale Faktoren, die auf eine "große Änderung unter dem Himmel" hindrängen könnten - eher früher als später.

Zwei große Tendenzen sind mit bloßem Auge zu erkennen: Einerseits hat die immer engere, immer korruptere Symbiose von staatlichen Machtträgern und scheinbar "privaten" Wirtschaftseliten das Profil der herrschenden Partei selbst verändert. Der Höllensturz ausgerechnet des neomaoistischen, als Saubermann auftretenden Politbüro-Mitglieds und "Prinzlings" Bo Xilai wegen massiver Korruption in diesem Frühjahr war - für alle erkennbar - ein Stich in ein Hornissennest.

Zweitens aber zeichnet sich in nahezu klassischer Weise eine "Revolution der steigenden Erwartungen" ab: sowohl in der steigenden Welle von "Zwischenfällen mit Massencharakter" im ganzen Land (täglich etwa 300) wie im stummen Konflikt mit den neuen, gebildeten, weltläufigen Mittelschichten.

Die herrschende Partei hat sich auf eine Machtprobe eingelassen, die auf ein kaltblütiges anthropologisches Experiment hinausläuft: In einer Welt sich verdichtender Massenkommunikation eine stets wachsende Zahl von Wörtern und Bildern, Meinungen und Fakten mittels einer Armee von Netzpolizisten aus dem Wortschatz und letztlich aus dem Gedächtnis der Gesellschaft zu "löschen".

Dieses neototalitäre Unternehmen trägt durch und durch kafkaeske, aber zugleich auch "kakanische" Züge - um Musils ironisches Bild einer zerfallenden Autokratie zu zitieren. Beruhigend ist diese Vorstellung allerdings nicht.

© SZ vom 05.07.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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