Kolumne:Wir

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Was Gemeinsinn bedeutet, gerät immer mehr in Vergessenheit. Demokratie braucht jedoch etwas, das über Eínzelinteressen hinausgeht.

Von Carolin Emcke

Das Einzige, woran wir die Realität der Welt erkennen und messen können, ist, dass sie uns allen gemeinsam ist," schrieb Hannah Arendt in der "Vita Activa". Der Gemeinsinn stehe "so hoch an Rang und Ansehen in der Hierarchie politischer Qualitäten, weil er derjenige Sinn ist, der unsere anderen fünf Sinne und die radikale Subjektivität des sinnlich Gegebenen in ein objektiv Gemeinsames und darum eben Wirkliches fügt". Die Wirklichkeit als eine uns allen gemeinsame zu verstehen, gehört für Arendt noch zum "gesunden Menschenverstand". Nichts, was eine besondere Gabe wäre oder außerordentlicher Tugend bedürfte. Dieser Sinn für die Wahrnehmung der Wirklichkeit gilt als eminent politisch, weil Realität das ist, was uns allen gegeben ist und woran wir uns orientieren. Diese Gemeinsamkeit der Welt nimmt ab, schrieb Arendt, ohne das Internet oder Donald Trump zu kennen, wenn "Aberglauben und Leichtgläubigkeit" zunehmen und "sich die Menschen auf ihre Subjektivität zurückziehen".

Was die res publica bedeutet, wird kaum noch verhandelt oder eingefordert

Was Gemeinsinn bedeutet, was es bedeutet, etwas - die Realität der Welt - gemein zu haben mit anderen, gerät leicht in Vergessenheit. Schon allein den Gemeinsinn als einen Sinn zu begreifen, der neben Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten steht, käme gegenwärtig niemandem mehr in den, nun ja, Sinn. Die radikale Subjektivität wird nicht mehr allein im Privaten zelebriert, sondern zersplittert auch die politische Öffentlichkeit in Narzissten, die ihre Selbstbespiegelungen und Projektionen mit der Welt verwechseln.

Aber der Gemeinsinn wird noch in anderer Hinsicht beschädigt: Was die res publica, die öffentliche Sache, in unseren Demokratien ausmacht, wird kaum mehr verhandelt oder eingefordert. Was immer es ist, worauf sich das res in res publica bezieht - öffentliche Räume oder gemeinsamer Besitz, verallgemeinerbare Werte und öffentliches Interesse - es droht zu schwinden. Darin verkümmert nicht zuletzt die Fantasie, dass sich über kulturelle, religiöse oder soziale Differenzen hinweg gemeinsam politisch handeln lässt. Die res publica wird wie der zerknitterte Schein einer abgeschafften Währung behandelt - etwas, das sich nur noch spöttisch oder sentimental betrachten lässt, aber heute über keine Kaufkraft mehr verfügt.

Die soziale Entwertung des Gemeinsinns zeigt sich nicht nur in der Vernachlässigung öffentlicher Räume wie Stadtbüchereien, Schwimmbäder oder auch nur Parkbänke, auf denen Menschen ausruhen können; sie zeigt sich nicht nur am Zustand der öffentlichen Infrastruktur, sei es Verkehr oder Bildung. Wie versehrt die Vorstellung von der res publica ist, zeigt sich schon in der Semantik: "Wir", das ist selten mehr als die eigene Familie, die eigene Konfession, die eigene Klasse, es ist selten mehr als eine partikulare Perspektive, ein besonderes Milieu; "wir", das ist oft auch etwas Statisches, etwas, das sich nicht verändern oder bewegen soll. Natürlich begreifen sich Individuen immer auch in unterschiedlichen kulturellen, sozialen, religiösen, sexuellen Bezügen oder Gemeinschaften. Und natürlich setzt jede oder jeder von uns im Alltag das Wort "wir" auch so ein: "Wir" kann dann die anderen mit demselben katholischen oder protestantischen oder jüdischen oder muslimischen Glauben meinen, die anderen mit demselben sozialen Status, demselben Parteibuch, derselben Hautfarbe, demselben Beruf. Das ist so selbstverständlich wie legitim. Und natürlich verortet sich jeder Mensch in verschiedenen solcher "Wirs", kreuzen sich in jeder und jedem verschiedene Bezüge.

Aber in einer modernen, säkularen Gesellschaft braucht es die Erinnerung an ein allgemeineres Wir, eines, das zwar alle diese partikularen, kulturellen und religiösen und sozialen Unterschiede anerkennt und zulässt, aber sie doch auf etwas Gemeinsames, eben die öffentlichen Belange, Güter, Praktiken vereint. Wenn die Kulturbeauftragte der Bundesregierung, Monika Grütters, argumentiert, das Humboldt-Forum in Berlin solle ein Kreuz zieren, weil "wir uns unserer eigenen Wurzeln bewusst sind und sie auch zeigen", dann ist dieses "Wir" schlicht zu klein und zu exklusiv. Es ist symptomatisch für die Logik der identitären Ausschließlichkeit, die universale Begriffe und verallgemeinerbare Werte verdrängt. Es lässt sich durchaus zutiefst christlich sein, ohne zu vergessen, dass es andere gibt, die das nicht sind. Es lässt sich durchaus, individuell oder kollektiv, der eigenen Wurzeln bewusst sein, ohne sie als einzig akzeptable Wurzeln zu denken. Eben darin besteht die demokratische Kraft eines liberalen, säkularen Staates, dass die res publica eine öffentliche Sache sein kann und muss, die die rein partikularen Bezüge und Überzeugungen seiner Bürgerinnen und Bürger übersteigt. Und eben darin besteht die normative Kraft des Universalismus, dass er nach verallgemeinerbaren Gründen sucht, die wechselseitig verstanden und anerkannt werden können.

Der politisch-mediale Diskurs der Gegenwart operiert dagegen fahrlässig oft mit der Annahme, alle könnten nur in ihren "authentischen" Bezügen denken, nur für sich und den eigenen politischen oder sozialen oder religiösen Stamm sich artikulieren oder fordern. Dass es im eigenen politischen oder demokratischen Interesse liegen kann, mehr Steuern zu zahlen oder die Schulden anderer abzubauen, dass es gute Gründe geben kann, religiöse Freiheiten zu schützen, auch wenn es nicht die eigene Konfession betrifft, dass es möglich ist, die Erfahrungen anderer zu verstehen, auch wenn man sie selbst nicht erlebt hat, dass die soziale Ausgrenzung einzelner Personen oder Gruppen alle als Gemeinwesen verletzen kann - eben das, was sich Gemeinsinn nennen kann, das droht verloren zu gehen. Es reicht nicht, sich damit zu begnügen, dass die populistischen Parteien mit ihrem exklusiven, völkischen "Wir" in Europa an Zuspruch verlieren. Es braucht auch wieder einen öffentlichen Diskurs, der ein demokratisches "Wir" denken kann, das sich im gemeinsamen Sprechen und Handeln entdeckt und entwickelt.

© SZ vom 17.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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