Eine der sonderbarsten Eigenschaften des menschlichen Geistes besteht in der Fähigkeit, vernünftig über Unvernünftiges nachdenken zu können", so schrieb Kathryn Schulz neulich in einem wunderbaren Essay mit dem Titel " Fantastic Beasts and how to rank them" im Magazin New Yorker. Wir können uns Dinge vorstellen, von denen wir wissen, dass sie faktisch unwahrscheinlich oder gar unmöglich sind. Nicht nur das, wir können uns auch darüber verständigen, warum wir manches, das unmöglich ist, für rationaler oder wahrscheinlicher halten als anderes.
Um es konkret überprüfbar zu machen, empfiehlt Kathryn Schulz einen hinreißenden Test: Die Leserinnen und Leser mögen eine Liste von 20 Fabelwesen nach ihrer Plausibilität ordnen. Es sind fiktive Monster und übernatürliche Figuren - und dennoch sollen sie danach geordnet werden, welches Viech möglicher erscheinen könnte. Die Optionen lauteten: Engel, Dämon, Zombie, Riese, Drache, Gespenst, Harpyie, Loch Ness, Leviathan, Pegasus, Elf, Zentaur, Einhorn, Zahnfee, Phoenix, Werwolf, Vampir, Dschinn, Meerjungfrau, Kobold. Harpyien, das musste ich nachschlagen, sind Mischwesen aus der griechischen Mythologie in Gestalt einer geflügelten Frau. Dann haben wir zu Hause, jede für sich, das Fantastische in eine glaubwürdige oder zumindest begründbare Ordnung gebracht.
Ich kann nur empfehlen, das in der Familie oder im Freundeskreis einmal auszuprobieren. Es kommt am Ende weniger auf die jeweilige Liste an als auf die Gespräche, die beim Erstellen und Vergleichen entstehen. Es geht darum, unscharfe Bilder von etwas, das man fürchtet oder das man sich erhofft, schärfer zu zeichnen. Oder darum, Gründe zu liefern, warum von zwei Dingen der Unmöglichkeit eines etwas weniger unrealistisch sein sollte. Es geht schließlich auch darum, dort weiterzudenken, wo die Fantasie normalerweise endet oder wo sie sich nicht mehr zu rechtfertigen weiß. Es ist jedenfalls erstaunlich, was alles als Begründung angeführt werden kann, warum Einhörner wahrscheinlicher als Meerjungfrauen sein sollten oder Kobolde glaubwürdiger als Riesen.
Als die FDP sich am vergangenen Sonntag entschied, die Gespräche abzubrechen, und die wochenlangen Sondierungen zwischen CDU/CSU, FDP und Bündnis 90/Die Grünen damit gescheitert waren, gab es einen Moment, wie er in der allseits orchestrierten Bildproduktionsmaschine der Parteien selten geworden ist: Unverstellte Enttäuschung war zu sehen bei den Verhandlern aus CDU/CSU und Grünen. Ganz gleich, ob einem persönlich diese Parteien oder ihre unwahrscheinliche Konstellation in einer Jamaika-Koalition wünschenswert erscheinen, in dieser Nacht war für jeden tiefe Erschöpfung und auch politische Melancholie zu spüren. Nichts davon wurde in autosuggestive Sprachhäppchen verpackt, niemand versuchte, die eigene Niedergeschlagenheit zu verschleiern, selbst die Wut auf die FDP wirkte nicht mehr parteitaktisch aufgeplustert, sondern wirklich wütend. Wie sie da standen und nicht mehr wussten, wohin, wie all die hoffnungsvolle Spannung aus den Körpern gewichen war, das zeigte einen der erstaunlichsten demokratischen Augenblicke der jüngeren Zeit.
Politische Sehnsucht ist einhornhaft selten geworden in der Ära Merkel
In einem Negativabzug ließ sich in diesem Moment des Scheiterns erstmals wieder echte politische Sehnsucht ablesen. Da waren Menschen aus den unterschiedlichsten kulturellen und politischen Milieus, die wollten etwas, die hatten wochenlang über die eigenen Fantasien nachgedacht und dabei Kriterien schärfen müssen, sie hatten die Räume des Wirklichen noch einmal abgeschritten und Gründe finden müssen, wie sich das, was der eine für unmöglich hält, doch als glaubhaft oder gar möglich rechtfertigen lässt.
Politische Sehnsucht ist geradezu einhornhaft selten geworden in der Regierungszeit Angela Merkels. Die Kanzlerin will politische Entscheidungen primär als objektiv nötig oder de facto unvermeidlich verstanden wissen - aber nicht als etwas, das einer emanzipatorischen Hoffnung oder auch einem sozialen Schmerz entspringen könnte, nicht etwas, das aus einer unmöglich scheinenden Fantasie, aus einem utopischen Vorgriff gemeinsam mit anderen entwickelt und begründet werden muss. Es ist leicht, rückwärts zu spekulieren, aber: Wie anders wären der politische Diskurs (oder auch die Wahlen) verlaufen, hätte Angela Merkel einfach mal versucht, ihr "Wir schaffen das" auszubuchstabieren. Wenn sie sich bemüht hätte, das "schaffen" mit echter politischer Sehnsucht zu füllen. Wenn sie präzise beschrieben hätte, was daran schwer und kompliziert wird, was wahrscheinlich und was unwahrscheinlich - und warum sie es trotzdem wollen kann. Von einer Fantasie für ein gerechtes, offenes, dynamisches Europa einmal ganz zu schweigen.
Insofern ist die Frage der nächsten Wochen nicht, ob es eine tolerierte Minderheitsregierung oder eine große Koalition oder Neuwahlen gibt, sondern wer in dem jeweiligen Szenario wirklich etwas will, wer an etwas glaubt und diesen Glauben mit einer Handlungsbereitschaft verkoppelt, wer ein politisches Vokabular und eine Sprache entwickelt, die Menschen auch anspricht und sie mobilisiert, wer bereit ist, die politische Tugend der Fantasie zu revitalisieren, auch wenn das bedeutet, angreifbar zu sein. Es reicht nicht, nur Misstrauen zu schüren wie die AfD. Aber es reicht auch nicht, allein in autodestruktiver Pseudotaktik komplett wunschlos daherzukommen wie die SPD. Wer seine Ambitionen nicht auf wirkliche politische, soziale und ökonomische Probleme auszurichten weiß, wer sich keine unwahrscheinlichen Fantasien zu entwickeln traut, der will auch nicht eingreifen in die Welt und sie auf bessere Möglichkeiten hin prüfen und gestalten. Ob es konservative oder liberale oder linke Ambitionen sind, ist nicht entscheidend. Sie alle brauchen Begriffe und Bilder, in denen sie ihre Überzeugungen von dem, was möglich werden soll, begründen. Sie alle brauchen ein politisches Begehren, das sie auch übersetzen können in demokratische Optionen. Nur Zombies kommen ohne Fantasie aus.