Kalt ist es hier manchmal. / Wenn ich an der Reihe bin / mit dem Frieren / dann zünde ich sie an, die leeren Worte, / Wort für Wort. / Am meisten / wärmt es mein Herz / wenn das Wort Hoffnungslosigkeit / lichterloh brennt", heißt es in einem Gedicht, das der kurdische Politiker Selahattin Demirtaș vor einigen Monaten im Gefängnis von Edirne geschrieben hat. Auch die Schriftstellerin Asli Erdoğan hatte davon gesprochen, in jenem Brief, der im Dezember vorigen Jahres aus dem Gefängnis schmuggelt wurde: "Woran man sich nicht gewöhnt, ist die Kälte."
Und so frage ich mich jeden Tag, ob Deniz wohl in seiner Zelle friert als Untersuchungshäftling in Silivri. Ob sie ihm eine Wolldecke gegeben haben, in die er sich einhüllen kann. Ob er Worte anzündet, wenn es zu kalt wird, eines nach dem anderen, wie Selahattin Demirtaș, und ob das Wort Hoffnungslosigkeit wohl lichterloh brennt. Ob ihn das zum Lachen bringen könnte oder wenigstens dazu, weniger zu frieren. Wer im Warmen sitzt wie wir hier, darf sich Hoffnungslosigkeit nicht erlauben, eben weil Menschen wie Deniz Yücel oder Asli Erdoğan sie sich nicht leisten können. Das ist das Mindeste, was wir ihnen schulden.
Ich kenne Deniz Yücel. Weniger gut als andere. Aber gut genug, um mir von der Wetter-App auf meinem Smartphone die Temperatur in Istanbul zeigen zu lassen. Gut genug, um plötzlich mit Bayer Leverkusen in der Champions League zu leiden, nur weil Deniz diese absurde Begeisterung für den Werksklub hegt. Gut genug, um mit anderen über vielfältige Formen des Einspruchs und der Solidarität nachzudenken. Gut genug aber auch, um mir der inneren Widersprüche bewusst zu sein, die Erdoğans Politik aus Willkür und Entrechtung allen aufzwingt, die sich für die Freilassung von Deniz Yücel und der anderen einsetzen. Bei jeder öffentlichen Äußerung, jedem kreativen Protest, jeder humorigen Aktion schleichen sich umgehend so vernünftige wie ängstliche Zweifel ein, ob es Deniz womöglich eher schaden als nutzen könnte. Alles wird permanent gewogen und für zu leicht oder zu schwer befunden. Manchmal beides zugleich.
Wo hört besonnene Vorsicht auf, wo beginnt vorauseilender Gehorsam?
Das ist die Mikrophysik der Ohnmacht und sie zeigt, was repressive Regime anrichten können: Sie sperren nicht nur unschuldige Menschen ein, sie unterdrücken nicht nur die freie Rede und das Presserecht, sondern sie verstümmeln allzu oft auch die kognitiven Räume, die nötig sind, damit Menschen als zivile Akteure politisch denken und handeln können. Gewiss ist es richtig, nicht nur den lokalen oder nationalen, sondern eben immer auch den internationalen Resonanzraum der eigenen Äußerungen mit einzubeziehen. Alles andere wäre provinziell und unterkomplex. Dazu gehört notgedrungen auch, die mögliche Reaktion der türkischen Regierung mit zu bedenken. Aber wie lässt sich das Irrationale rational einkalkulieren? Wie sehr führt besonnene Vorsicht im Umgang mit einem eskalationswilligen Autokraten zur ethischen Selbstdeformation und zu vorauseilendem Gehorsam? Oder spielt es in dieser politischen Konstellation gar keine Rolle, wie falsch sich die eigene rhetorische Zurückhaltung anfühlt, solange sie denen zugute kommt, die für ihre Texte eingesperrt wurden?
"Geduld ist die Mutter aller Schrecken", schrieb der Autor Hubert Fichte in seinem Roman "Versuch über die Pubertät" von 1974. "Geduld und Verstellung", fügte er hinzu. Vielleicht kommt es genau darauf an in diesen finsteren Zeiten: nicht allzu viel Geduld zu zeigen und, das würde Deniz vermutlich gefallen, keine Verstellung. Sich nicht verformen zu lassen - das ist eine kluge Form des Widerstands gegen die Einladung zur politischen Mimesis. Sich nicht zu verstellen, das heißt: sich nicht zu dem machen zu lassen, was das Regime Erdoğan will, das man es sei - autoritär, aggressiv und religiös dogmatisch. Sich nicht zu verstellen, das heißt - bei aller Verzweiflung -, präzise zu bleiben, selbstkritisch und inklusiv.
Der türkische Präsident ist dem Dogma der Reinheit offensichtlich ebenso verfallen wie die rassistischen Populisten in verschiedenen europäischen Ländern. Sie ähneln und brauchen einander in ihrer spiegelbildlichen Vorstellung ethnisch oder religiös homogener Nationen. Die Pluralität einer demokratischen Gesellschaft, die sich nicht aufspalten lassen will nach Herkunft oder Glaube und die Kritik an den eigenen Traditionen oder Institutionen zulässt, lehnen sie gleichermaßen ab. Alles Hybride, alles kulturell Vielfältige soll vereinheitlicht und bereinigt werden. Ein unabhängiger Geist passt in dieses Dogma des Schlichten so wenig wie eine doppelte Staatsangehörigkeit. So erklärt sich auch die nationalistische Rasterfahndung, die Deniz entweder kategorial vereinnahmen oder ausschließen will. So erklärt sich vermutlich auch, warum die türkische Regierung bis heute nicht respektieren will, dass Deniz deutscher Staatsbürger ist. Dass jemand sich vielleicht zu allererst als Journalist verstehen und somit der Wahrheit verpflichtet fühlen könnte, das können manche schon gar nicht denken. Jetzt die Abschaffung der doppelten Staatsbürgerschaft zu fordern, weil sie angeblich grundsätzlich Illoyalität der Demokratie gegenüber fördere oder weil sich nicht in zwei kulturellen Bezügen leben ließe, erfüllt nichts als Erdoğans Sehnsucht.
Das Schönste der letzten Wochen, das, was das Wort Hoffnungslosigkeit lichterloh in Flammen aufgehen lässt, ist dagegen diese bunte, solidarische Bewegung, die herkömmliche identitäre Zuschreibungen unterläuft. Eine überraschend autonome, politische Subjektivität scheint da auf, quer zu den eingeübten politischen Allianzen oder Aversionen, eine, die sich eben nicht darum schert, woher jemandes Eltern stammen, in welcher Sprache jemand träumt oder trauert, welchen Pass jemand besitzt oder mit welchem Auto jemand zum Korso aufkreuzt. In diesem Engagement für Deniz Yücel und die anderen inhaftierten Journalisten lässt sich sehen, dass und wie es möglich ist: transnationale Anteilnahme und leidenschaftlicher Einsatz für die universalen Garantien der Presse- und Meinungsfreiheit in einer Demokratie.