Kolumne:Globalesisch

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Europa tut gut daran, die Vielfalt seiner Sprachen zu schützen und zu würdigen. Diese Vielsprachigkeit ist ein großer Reichtum, kein Kostenfaktor.

Von Karl-Markus Gauß

Als 2004 die vorerst letzte Erweiterungsrunde der Europäischen Union anstand, warnten nicht wenige Beamte und Politiker davor, dass nun viele kleine Sprachen - das Estnische oder Litauische, das Bulgarische oder Maltesische - den Status gleichberechtigter Konferenzsprachen erhielten und so das Arbeitstempo im Plenum heillos verlangsamt würde. Wenn erst jede Rede in alle 23 anerkannten Sprachen der Union übersetzt werden müsse, wie kompliziert würde dann die tägliche Arbeit im Parlament und in den Ausschüssen? Und käme der aufwendige Übersetzungsdienst nicht schlicht zu teuer? So lag es nahe, dass die Verächter der sprachlichen Vielfalt Europas auf eine abgenützte Idee verfielen und neuerlich den Traum von der einen universalen Sprache der Menschheit zu träumen begannen.

Als einflussreichster linguistischer Oberpriester hat sich der belgische Ökonom und Philosoph Philippe Van Parijs erwiesen. Sprachliche Verarmung preist er als gesellschaftliche Bereicherung. Mit enormer Gelehrsamkeit und bezwingenden Argumenten schwärmt er von einer Zukunft, in der sich das Englische aus keinem minderen Grund als dem der Gerechtigkeit in Europa und auf allen Kontinenten durchgesetzt haben werde. Die zahllosen Sprachen, die heute noch gesprochen werden, müssten nach und nach allesamt zu bloßen Dialekten herabsinken, auf dass sie segensreich vom einigenden Englisch überwölbt werden könnten.

Was das mit Gerechtigkeit zu tun haben soll? Nun, weil es jedem Menschen zusteht, am Wohlstand und an den politischen Entscheidungen zu partizipieren, müsse einem jeden auf Erden auch das Anrecht zugebilligt werden, nicht auf seine provinzielle Muttersprache verwiesen zu bleiben, sondern die allen gemeinsame Weltsprache zu erlernen und seine Interessen in dieser zu verfechten. Das Buch, in dem Van Parijs eine Art von ewigem Frieden mittels des Englischen als Sprache der Menschheit ausruft, trägt einen täuschenden Plural im Titel, "Sprachengerechtigkeit", wiewohl es in ihm doch um das Unrecht sprachlicher Hegemonisierung geht.

Es ist ein Glück, dass Debatten im EU-Parlament nicht in Geschäftsenglisch geführt werden

Die Europäische Union ist dafür zu rühmen, den Argumenten Van Parijis' nicht gefolgt zu sein. Sie hat sich nicht nur in Gesetzen und Dokumenten zur sprachlichen Vielfalt bekannt, sondern steht durch großzügige Förderung auch mancher nationalen Minderheit bei, die bereits der kulturpolitischen Unterstützung bedarf, damit ihre Sprache nicht bald schon ins imaginäre Museum der ausgestorbenen Sprachen übersiedeln muss. Der deutsche Romanist und Linguist Jürgen Trabant hat in seinem klugen Buch "Globalesisch oder was" ein überzeugendes Plädoyer für die Vielsprachigkeit Europas gehalten und nebenbei ausgerechnet, wie teuer der oft als pure Verschwendung gegeißelte Übersetzungsdienst uns alle kommt. Es sind sagenhafte zwei Euro und 28 Cent, die jeder Unionseuropäer im Jahr dafür aufzuwenden hat, dass die Debatten nicht in einem reduzierten Geschäfts- oder Verhandlungsenglisch geführt werden, sondern in den offiziellen Staatssprachen sämtlicher Mitgliedsländer. Gar so groß ist das Potenzial für Einsparungen also nicht.

Die meisten heutigen Verfechter einer Universalsprache haben ein geradezu simples Verständnis von Sprache, die ihnen nichts ist als ein Vehikel, mit dem geschäftliche Transaktionen befördert und politische Fragen ausverhandelt werden. Natürlich ist Sprache auch das, aber sie ist doch viel mehr: der Urgrund des Menschen, der ohne sie gar keiner wäre, das unendlich fein nuancierte, wandlungsreiche Medium, in dem der Einzelne seiner selbst bewusst, seiner Mitmenschen gewahr und der Welt innewird. Wer für den Artenschutz von Pflanzen oder Tieren am Amazonas eintritt, müsste daher leidenschaftlich auch für den Schutz der Sprachen eintreten, von denen Jahr für Jahr Aberdutzende aussterben - freilich ohne betrauert zu werden, weil sich der Fortschritt nun einmal, vermeintlich, nur über diesen Verlust vollziehen kann.

Es gibt nur eine Welt, aber erst in den vielen Sprachen wird sie zu der unseren. Eine jede von ihnen birgt und leistet etwas, was in den anderen nicht genau so erfasst und konstituiert würde und trägt damit zum Reichtum der Menschheit bei. Im Slowenischen zum Beispiel gibt es das Wort hrepenenje, an dem sich schon viele Übersetzer erprobt haben und das im Deutschen meist als "Sehnsucht" - auch dies ein ebenso wunderbares wie abgründiges Wort - übersetzt wird. Aber diese Übersetzung trifft es nicht ganz, denn hrepenenje meint eine besondere Form von Sehnsucht, nicht nach verwehten Kindertagen, einem besonderen Menschen, einem fernen Land, sondern eine Sehnsucht, die sich gewissermaßen selbst genügt, eine Art von gekeltertem Heimweh, an dem man sich, wenn einem die Stimmung danach ist, auch ordentlich berauschen kann. Mit dem englischen nostalgia wird es keineswegs getroffen, mit dem französischen aspiration noch weniger. Am ehesten ist das Wort aus dem kleinen Land, das von den Alpen zur Adria reicht, mit einem Wort aus einem Land verwandt, das auf den Atlantik blickt, mit dem portugiesischen saudade. Auch die saudade wird im Deutschen mit "Sehnsucht" übersetzt und ist doch etwas anderes, und erst recht das englische longing trifft nur eine von vielen Stimmungen, die in ihm Sprache wurden. Die saudade ist Sehnsucht und Wehmut, ein Gefühl der Vergeblichkeit und ein bittersüßer Schmerz des Verlusts. Portugiesische Schriftsteller erklären, die saudade sei aus der Sehnsucht des Seefahrers erwachsen, der in die Weite möchte und sich auf der See nach dem festen Grund der Heimat sehnt, wo er sich sogleich wieder nach dem schwankenden Boden des Schiffes zu sehnen beginne.

Man wird einwerfen, dass solche stilistischen Finessen doch nichts mit der nötigen sprachlichen Effizienz bei den Verhandlungen der Europäischen Union zu tun hätten. Ich bin mir aber sicher, dass die Zukunft der Union auch davon abhängt, ob die Europäer beginnen, ihre wahren Reichtümer zu erkennen, zu schätzen und zu behaupten.

© SZ vom 18.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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