Die Welt war nicht mehr echt. Alles in ihr war nur eine betrügerische Nachahmung dessen, was es eigentlich sein sollte, und nichts von dem, was in ihr geschah, hätte geschehen dürfen", heißt es in "4321", dem jüngsten Roman des amerikanischen Schriftstellers Paul Auster. Es ist genau dies ungläubige Staunen, das die politische Öffentlichkeit seit der Amtsübernahme Donald Trumps kennzeichnet. Die amerikanische Welt wirkt vor lauter präsidentieller Ungeheuerlichkeiten nicht mehr echt. Jeden Tag geschieht etwas darin, das nicht hätte geschehen dürfen, das mehr an die zynisch oder satirisch überzeichneten Fiktionen im Fernsehen denken lässt als an die Realität einer modernen Demokratie. Vor jeder Empörung über chauvinistische Entgleisungen, personelle Fehlbesetzungen oder feudal-autoritären Machtmissbrauch liegt stets (noch) die Überraschung, wozu die Akteure im Weißen Haus fähig sind. Im Angesicht der schieren Quantität der Irrungen und Wirrungen dieser Regierung lässt sich nicht einmal mehr qualitativ hierarchisieren, welche der Entscheidungen von Donald Trump als gefährlichste gelten sollten.
Da ist zunächst das notorische Lügen. Nicht allein das des Präsidenten. Die Halbwertszeit der Überzeugungen von Trump währt genau bis zur nächsten Überzeugung. Das ist eine Art serieller Wahrhaftigkeit, bei der jede vergangene Aussage vergessen oder verleugnet wird. Die unabhängige Plattform "Pro Publica" veröffentlichte im März eine Liste mit den Falschaussagen von immerhin fünf Kabinettsmitgliedern im Verlauf ihrer Berufungs-Anhörungen durch den Kongress: Scott Pruitt, Chef der Umweltbehörde, Bildungsministerin Betsy DeVos, Generalbundesanwalt Jeff Sessions, Finanzminister Steven Mnuchin und Tom Price, Minister für Gesundheit und Soziale Dienste. Jeff Sessions Falschaussage betraf bezeichnenderweise die Frage nach seinen russischen Kontakten. Bis auf Betsy DeVos gaben alle ihre Erklärungen unter Eid ab. Es mag strittig sein, welche Begrifflichkeiten dafür taugen: Leugnen, Täuschen oder Lügen. Unstrittig dagegen ist, dass eine eidesstattliche Falschaussage vor dem Kongress juristisch als Straftat gilt. Jenseits der Frage nach der sachlichen Kompetenz der einzelnen Kandidaten und unabhängig von ihren politischen Überzeugungen hätten ihre Aussagen sie disqualifizieren müssen. Die Tatsache, dass sie trotzdem alle im Amt bestätigt wurden, spricht für eine Anästhesierung des politischen Gewissens quer durch die republikanische Partei - und damit für einen Kongress, der seiner Aufgabe, die Regierung zu kontrollieren, nicht mehr nachkommen kann. Ein dysfunktionaler Kongress ist jedoch mehr als das, er ist eine politische Unwucht. Er destabilisiert das Prinzip der Gewaltenteilung und damit die Demokratie selbst.
Die Entlassung von FBI-Direktor Comey weist auf eine Verfassungskrise hin
Dann ist da Trumps offene Verachtung für Institutionen und seine wiederholte Respektlosigkeit gegenüber unabhängigen Gerichten und Richtern, vor allem denen, die seine Erlasse infrage stellen oder abweisen. Eine der spektakulärsten Entscheidungen des Präsidenten ist eigentümlicherweise die am wenigsten kommentierte: das "2 für 1"-Dekret ( Presidential Executive Order on Reducing Regulation and Controlling Regulatory Costs), wonach jede Behörde, die eine neue Regulierung erlassen will, dafür zwei bereits geltende annullieren muss. Es braucht nicht begründet zu werden, warum eine Verordnung abgeschafft werden soll. Es gilt schlicht: Für jede neue Regulierung müssen zwei existierende gekippt werden. Für Verfassungsrechtler wie Ronald Krotoszynski von der Law School der Universität von Alabama ist dies die "gesetzeswidrigste Handlung" dieser Regierung bislang. Zu der Verunsicherung, was wahr ist und was nicht, die durch das notorische Lügen generiert wird, gesellt sich so die Verunsicherung darüber, was noch legitim und legal ist und was nicht.
Und nun also die abrupte Entlassung des FBI-Direktors James Comey, den Donald Trump nach seinen eigenen widersprüchlichen Aussagen immer schon für unfähig hielt, dem er erst nur auf Empfehlung, dann aber wieder auf eigene Initiative hin gekündigt haben will. Zuletzt gab der Präsident sogar zu, dass er die Ermittlungen des FBI zu den dubiosen Verbindungen zwischen Trumps Wahlkampf-Team und russischen Offiziellen schleunigst beendet sehen wollte. Sollte dies stimmen - und das ist bei Donald Trumps porösem Wahrheitsbegriff nie gewiss - wäre es unter Umständen eine Behinderung der Justiz. Die kritische Öffentlichkeit sieht in dem Vorgang die Schwelle zur Verfassungskrise überschritten. Das ist insofern erstaunlich, als es schon lange ein ganzes Spektrum an Hinweisen auf so eine Verfassungskrise gab.
Vielleicht taugt die Frage der Einmischung der Russen in den amerikanischen Wahlkampf aber auch deswegen so gut zur Skandalisierung, weil sich damit die Schuld für die Wahl dieses fragwürdigen Präsidenten externalisieren lässt. Jede Debatte über die russischen Machenschaften verschiebt schließlich den Fokus: weg von den inneren Zerwürfnissen der amerikanischen Gesellschaft, weg von den radikalen rechten Netzwerken, die Trump propagandistisch unterstützen, weg von einer korrumpierten republikanischen Partei, weg von dem Versagen der Demokraten, politische Konzepte für soziale, kulturelle, ökologische Fragen zu entwickeln, und weg von einem handlungsunfähigen Kongress, der die autoritäre Exekutive weder kontrolliert noch kritisiert. Nicht, dass eine Manipulation der amerikanischen Wahl durch die russische Regierung, wenn nachweisbar, nicht eine politische Katastrophe wäre. Aber es ist eben ungeheuer bequem, sich nicht mit dem eigenen politischen Versagen auseinanderzusetzen, sondern die Verantwortung für die (un-)demokratischen Verhältnisse nach außen zu verschieben. Je länger die Öffentlichkeit der russischen Verbindung nachjagt, desto länger lässt sich maskieren, dass die amerikanische Demokratie von Grund auf revitalisiert werden muss. Dazu braucht es mehr als eine kritische, unabhängige Justiz oder gar eine mögliche Amtsenthebung dieses Präsidenten.