Ein Mensch bekommt Schuldgefühle, wenn er Menschen verletzt - aber ein Bürokrat kriegt nur Schuldgefühle, wenn er Vorschriften verletzt." Diese gemeine, verallgemeinernde Zuspitzung stammt von Regine Hildebrandt, brandenburgische Arbeits- und Sozialministerin unter Manfred Stolpe. Der Satz dürfte erfahrungsgesättigt sein. Er ist wichtig in diesen Zeiten, in denen Vorschriften das Mittel der Eindämmung sind. Vorschriften bis in intimste Lebensbereiche hinein, wie etwa das Sterben. Menschen in Heimen wurde vorgeschrieben, ob sie die letzten Stunden ihres Lebens mit einem nahen Menschen teilen dürfen oder nicht. Kaum etwas beschämt mich so sehr wie die Vorstellung, wie viele alte Menschen, die wir schützen wollten, in den ersten Monaten der Pandemie vielleicht unnötig alleine waren und wie still diese Gesellschaft das hingenommen hat.
Nur weil man sich mit den irrationalen Corona-Protestierenden nicht identifizieren kann, muss man die staatlich verordneten Maßnahmen nicht alle gutheißen. Gerade während einer Pandemie braucht diese Demokratie eine kritische Öffentlichkeit. Wann fangen wir an, Fehler aufzuarbeiten? Ist es nicht bezeichnend für die Übervorsichtigkeit des derzeitigen medialen Diskurses, dass Gesundheitsminister Jens Spahn die erste Selbstkritik vor Demonstranten in Bottrop äußert statt auf kritische Nachfragen von Pressevertretern hin? Er räumte ein, mit dem Wissen von heute seien einige Schutzmaßnahmen unverhältnismäßig gewesen. Eine ehrliche und vernünftige Äußerung. Natürlich, alle standen unter Schock, in den Abendnachrichten nichts als Corona, was auch manche Medienwissenschaftler nun kritisieren. Es sollte das Anliegen aller Bürger sein, wissen zu wollen, wie sinnvoll die Opfer waren und welche Folgen nun zu stemmen sind. Jens Spahn nannte Pflegeheime als Beispiel, ein Bereich, in dem viele Menschen durch die Maßnahmen emotional tief verletzt wurden.
Was würden und sollten wir mit dem Wissen von heute nicht mehr tun? Es wurden Fehler gemacht, es werden noch mehr Fehler gemacht werden. Selbst Bürokraten schimpfen hinter verschlossener Tür über das Sammelsurium an Vorschriften, schließlich müssen viele von ihnen das Ganze durchsetzen. Doch im öffentlichen Diskurs herrscht merkwürdige Einigkeit darüber, wie gut Deutschland die Corona-Krise meistert. Nur die Corona-Demos stören, sie seien nicht repräsentativ, heißt es dann. Doch das greift zu kurz.
Im Bemühen, die Proteste zu verharmlosen, verweisen viele gerne auf die fast neunzig Prozent Zustimmung zu den staatlich festgesetzten Maßnahmen. Doch wie kommt es zu diesen neunzig Prozent? Ist Kritiklosigkeit jetzt eine Tugend? Zählen zu diesen neunzig Prozent auch jene Eltern und Familien, die monatelang mit der Schulschließung umgehen mussten, die digitales Homeschooling in einem Land erleben durften, das in Sachen Digitalisierung hinter Kasachstan und Kirgisistan gerankt wird? In Dänemark waren die Kinder schon im April wieder in den Krippen, Kindergärten und Schulen. Man wolle nach vier Wochen die Eltern entlasten, sagte die dortige Regierung - doch in Deutschland ist man trotz des Ausbleibens dieser Entlastung zu neunzig Prozent zufrieden?
Es gab Länder, in denen öffentliche Parks tagsüber gesperrt wurden, damit Kinder lernen können. Bei Regen ging es in Museen oder in andere öffentliche Einrichtungen. Wir können zwar keine Digitalisierung, aber Parks und Museen haben wir auch. Warum versteckt man sich hinter Zufriedenheit, warum fehlt die Energie für Kritik? Ist diese "Zufriedenheit" nicht eher eine Gleichgültigkeit, die einer Demokratie mehr schadet als nutzt?
Der eingangs zitierte Satz von Regine Hildebrandt ist in dieser Krise essenziell. Nach Jahren des Kampfes um informationelle Selbstbestimmung heißt es nun: Willst du einen Kaffee, her mit persönlichen Daten! Außer den Gastwirten beugen sich auch die Innenministerien der Länder gerne über diese Listen, wie diese Woche bekannt wurde. Zweckentfremdet. Hätte man so etwas nicht mit etwas Kritik im Vorfeld ausschließen können?
Welche Folgen die Maßnahmen, mit denen fast alle so zufrieden sind, auf die Gesellschaft haben werden, ist noch lange nicht absehbar. In den ersten Tagen der Einschränkungen träumte man von neuer Solidarität, doch dann kam der Sturm auf das Toilettenpapier. Und die Platzkämpfe, die man sonst vor allem aus Schwimmbädern kannte, zogen in die Supermärkte. Spätestens zur Ferienzeit etabliert sich das öffentliche Beschämen in den sozialen Medien. Unrechtmäßige Fotos von Ungehorsamen, Wuttiraden über Urlaubende, die es wagen, in diesen harten Zeiten genießen zu wollen. Wie gut passt es einem missgünstigen Geist in den Kram, wenn er seine Missgunst hinter seinen Sorgen rund um die Pandemie verstecken darf?
Reiserückkehrer, sagen einige, sollten nun bitte ihre Tests selbst bezahlen, weil sie freiwillig das Risiko eingegangen sind. Als herrsche das Risiko nicht überall. Dabei ist unser Gesundheitssystem glücklicherweise nicht so aufgebaut, dass jeder Skifahrer seinen Knochenbruch selbst zu bezahlen hat, weil ihm das auf dem heimischen Sofa nicht passiert wäre. Risiko gehört zum Leben, das scheint seit Corona vergessen zu sein. Stattdessen: Sozialneid und gegenseitige Bürgerkontrolle.
Ich empfinde keinerlei politische Sympathie für die Corona-Protestierenden, die sich vergangenen Samstag in Berlin von Rechtsextremen die Aufmerksamkeit haben stehlen lassen und sich von Nazis nicht abzugrenzen wissen. Paradoxerweise lenken die medienwirksamen, doch in weiten Teilen hohlen Proteste von den wirklichen Problemen dieser Krise ab. Meist hört man nur krudeste Theorien vor den Kameras und winkt ab. Verschenkt ist der Raum für wichtige Kritik und schwierige Schicksale. Vielleicht wären weniger Bürger auf Verschwörungszyniker hereingefallen, wenn es schon früher kluge kritische Stimmen gegeben hätte.
In normalen Zeiten würde jeder Diskurs solide Medienkritik enthalten, die auch das Schüren von Ängsten kritisiert. Doch seit Monaten riskieren nur wenige Denker fundierte Gegenpositionen, als wäre jede Kritik eine Leugnung der Gefahr. Dabei sollte man gerade jetzt Kritik an den Zuständen nicht Irrationalen überlassen.