Karjakin gegen Carlsen:Duell der Denker

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In New York hatten die Veranstalter einige Mühe, den Saal der Schach-WM zu füllen. Im Internet aber hat das Spiel eine erstaunliche Dynamik gewonnen.

Von Claus Hulverscheidt und Johannes Aumüller

Ziemlich genau 20 Minuten nach Beginn der vierten Partie an diesem letzten WM-Tag tat Sergej Karjakin etwas, das er in den gesamten drei Wochen zuvor praktisch nie getan hatte. Er blickte mitten im Match vom Brett auf und starrte einen nicht enden wollenden Moment an die Wand - ganz so, als stünde dort eine geheime Botschaft, wie er den vorrückenden Gegner doch noch schlagen könnte. Doch alles, was Karjakin sah, waren die Namen eines Düngemittelherstellers und eines Vermögensverwalters, der Preisgeldgeber. Und so war wenig später offiziell, was der Herausforderer in diesem Moment wohl schon ahnte: Der alte und neue Schach-Weltmeister heißt Magnus Carlsen.

Der Tie-Break, den der Norweger an seinem 26. Geburtstag mit 3:1 gewann, entschädigte für manch dröges Remis, das die Kontrahenten seit dem 11. November in zwölf regulären Partien fabriziert hatten. Ja, mehr noch: Die Schnellmatches, bei denen jeder Spieler nur 25 Minuten Bedenkzeit hat (plus zehn Sekunden Gutschrift nach jedem Zug), waren an Spannung und Dramatik kaum zu überbieten. Sie zeigten am Ende zweierlei: erstens, dass Carlsen im entscheidenden Moment tatsächlich der beste Spieler der Welt ist, und zweitens, dass die Fehler, die ihm in den drei Wochen unterlaufen waren, weniger mit einer plötzlichen Schwäche zu tun hatten als vielmehr mit der Stärke seines Gegners.

Was Karjakin vor allem im zweiten Spiel des Tages geboten hatte, war atemberaubend. Nach dem Remis in Match eins griff Carlsen seinen sieben Monate älteren Gegner mit den weißen Steinen beherzt an, setzte ihn unter Druck, plünderte dessen Zeitkonto, ja, filetierte ihn. Ein einziger Bauer stand Karjakin am Ende noch zur Verfügung, seine Uhr zeigte vier Sekunden Restbedenkzeit - das Matt schien unvermeidbar. Doch der Russe opferte den Bauern und schaffte völlig überraschend ein Patt, eine Situation, bei der ein Spieler, obwohl nicht im Schach stehend, keinen gültigen Zug machen kann. Wieder Remis.

"Das war eine der besten Defensivleistungen, die ich je gesehen habe."

Im Zuschauer-Foyer, drei Wochen lang ein Ort des Dauergemurmels, hielten die Menschen die Luft an. Carlsen, der später von einem "frustrierenden Spiel" sprach, schoss angesichts der gefühlten Niederlage aus dem Ledersessel und stürmte aus dem schalldichten Spiel-Raum. "Wow", staunte ein indischer Schachexperte, der die Partie im Fulton Market Building, dem ehemaligen New Yorker Fischmarkt, live verfolgte. "Das war eine der besten Defensivleistungen, die ich je gesehen habe."

Doch zu Carlsens größten Stärken zählt seit jeher, nach Nackenschlägen stärker als zuvor zurückzukommen. Und so spielte er im dritten Match, als hätte es jenes vermaledeite Spiel zwei nie gegeben. Er griff erneut an, während Karjakin sein eben geschaffter Husarenritt nicht zu beflügeln, sondern zu lähmen schien. "Ich hatte mich vor dem Tie-Break auf alle möglichen Spielsituationen vorbereitet", sagte der Russe später. "Beim Schnellschach kommt es aber mehr darauf an, in einer sehr guten allgemeinen Verfassung zu sein - und das war ich heute nicht." Nachdem ihn Carlsen in die Enge getrieben hatte und mit nur noch 20 Sekunden Bedenkzeit auf der Uhr, gab Karjakin das Spiel verloren.

"Beim Schnellschach kommt es darauf an, in einer sehr guten allgemeinen Verfassung zu sein": Am Ende setzte sich Magnus Carlsen (rechts) im Tie-Break der WM gegen Sergej Karjakin durch. Collage SZ, Fotos: Eduardo Munoz Alvarez/AFP (Foto: N/A)

Er wusste nun, dass er das vierte Spiel gewinnen musste, doch obwohl er aggressiv begann, gelang es ihm nie, den Champion in Not zu bringen. "Ich hatte ein paar Tage, um mich vorzubereiten, weil ich nach der elften regulären Partie auf Tie-Break gespielt hatte und, anders als er, nicht über das zwölfte Spiel nachdenken musste", sagte Carlsen nach dem Finale. "Ich bin sehr froh, gewonnen zu haben - und vor allem darüber, dass es am Ende wieder richtig Spaß gemacht hat zu spielen." Wie groß seine Lust war, zeigte sich in den allerletzten Zügen, als er seinen überraschten Gegner mit einem Damenopfer wunderschön matt setzte - ein Abschluss, der in die Geschichte eingehen wird. Carlsen erhält für seinen Sieg 605 000, Karjakin für den zweiten Platz immerhin noch 495 000 Dollar.

Ob die WM auch den Schachsport an sich in eine neue Dimension befördert hat, wie Ilja Merenzon, der Chef des russischen Veranstalters Agon, in New York nicht müde wurde zu betonen, ist eine andere Frage. Eine Markthallen-Etage, ein paar Pressspanwände, ein Fenster, hinter dem, für nur wenige Fans sichtbar, zwei Sportler ein Finale ausfechten - oft war die Magie dieses jahrhundertealten Spiels beim Blick aufs Smartphone oder beim Fachsimpeln in der Kneipe mehr zu spüren als am Ort des Geschehens. Und auch die langen Besucherschlangen, die sich an den Finaltagen vor dem Fulton Market Building bildeten, gab es nur in der Fantasie des Veranstalters und einiger Berichterstatter, die überall gewesen sein mögen, aber sicher nicht in Lower Manhattan. Meist verloren sich nicht mehr als 250 Menschen in der turnhallengroße Etage - Offizielle, Journalisten, Türsteher und Snackverkäufer eingeschlossen. Für den Tie-Break hatte Agon Freikarten und vergünstigte Tickets verteilt, um den Raum voll zu bekommen.

Andererseits waren da das Internet und neue Übertragungsformen, die erstmals voll auf das Smartphone zugeschnitten waren. Von einer Milliarde Zuschauer sprach der Schach-Weltverband nach der Finalrunde. Das dürfte zwar wie üblich übertrieben sein, richtig ist jedoch: Weltweit schlugen sich während der WM Millionen Menschen die Nachmittage und Nächte um die Ohren, um mitzubekommen, welche Züge sich zwei Mittzwanziger ausdenken.

Dass der Schachsport so populär wie lange nicht mehr ist, hat nicht nur damit zu tun, dass Weltmeister Carlsen als Popstar und Herausforderer Karjakin als Ikone eines neuen russischen Weltmachtstrebens inszeniert werden. Wichtiger ist die Digitalisierung - eine bemerkenswerte Pointe, denn als der Computer vor Jahren auch den Schachsport zu erobern begann, da sahen viele den Kerngedanken eines Duells zweier menschlicher Gehirne in Gefahr.

Der Verlierer will nun sein Spiel verbessern - und dann die Revanche

Doch niemand will zwei Maschinen gegeneinander spielen sehen, weshalb der Rechner die Spitzenakteure nicht ersetzt hat, sondern ihnen heute dabei hilft, sich intensiv auf Turniere vorzubereiten. Das führt zwar manchmal dazu, dass während der Matches nur am PC erprobte Konzepte abgespult werden, reduziert aber auch die Fehler und erhöht das Niveau. Zudem eignet sich kaum eine Sportart so sehr dafür, sie im Internet zu spielen und zu verfolgen. Alle Züge lassen sich bestens nachvollziehen, und nebenbei erklären Kommentatoren mithilfe von Grafiken, warum Carlsen in diesem Moment lieber den Turm anstelle des Springers bewegen sollte. Der versierte Laie fühlt sich so den Superdenkern plötzlich ebenbürtig, weil auch er sieht, dass sich das mögliche Läufer-Opfer nach vier weiteren Zügen einfach lohnen muss.

Sergej Karjakin kündigte nach seiner Niederlage an, er werde sich jetzt ausruhen und dann daranmachen, "mein Spiel zu verbessern". Macht er das wahr, ist es gut möglich, dass er Carlsen bei der WM im Jahr 2018 wieder gegenübersitzen wird.

© SZ vom 02.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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