Japan:Macht der Gewohnheit

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Vor der Wahl in Japan wettert die Opposition gegen die rechtskonservative Übermacht. Doch ein Regierungswechsel ist nicht sehr wahrscheinlich - trotz des Frusts im Volk.

Von Thomas Hahn, Tokio/Shiojiri

Eine Frau radelt vor dem Wahlplakat des LDP-Kandidaten Kenji Wakamiya in Tokio. (Foto: BEHROUZ MEHRI/AFP)

Bevor es losgeht, blickt Saori Ikeuchi noch kurz in den Spiegel. Sie zupft ihre Wahlkampfschärpe zurecht, sie schaut sich in die Augen. Sie vergewissert sich, dass ihre unaufdringliche Erscheinung mit der locker gescheitelten Kurzhaarfrisur und dem dunklen Blazer die Entschlossenheit ausstrahlt, die sie brauchen wird in den nächsten Tagen, um im Wahlkreis Tokio zwölf bei der nationalen Unterhauswahl am 31. Oktober einen Sitz für Japans neues Oppositionsbündnis zu erringen. Dieser graue Herbstdienstag ist der offizielle Auftakt der Stimmenjagd. Saori Ikeuchi will eine erste große Runde drehen. Es sollen gleich möglichst viele mitbekommen, dass sie, die 39-jährige Feministin von Japans Kommunistischer Partei (JCP), nicht aufgegeben hat, nachdem sie vor vier Jahren aus dem Parlament gewählt wurde.

Vor ihrem Parteibüro im Kleinbürgergebiet des Tokioter Bezirks Kita warten schon die Anhänger und der beflaggte Kleinbus mit den Megaphonen. Sie hält eine erste Rede auf dem Bürgersteig. Es regnet. Sie lästert über den "pechschwarzen Anstrich" der Regierungskoalition aus LDP und Komei-Partei. Sie ruft: "Wir ändern die Politik, die das Leben vernachlässigt!" Dann bricht sie auf in den Wahlkampf gegen die rechtskonservative Übermacht.

Während der Pandemie trat der Premierminister zurück

Eine neue Zuversicht hat die Gegnerinnen und Gegner des Politik-Establishments in Japan erfasst. Die Regierung sah in der Corona-Krise zeitweise so schlecht aus, dass der LDP-Mann Yoshihide Suga freiwillig seinen Posten als Premierminister räumte. Nachfolger Fumio Kishida hat in den erst Wochen seines Wirkens keine Aufbruchstimmung entfacht.

Die Opposition präsentiert sich als eine Mitte-Links-Einheit, die es so noch nie gab in Japan. Die Konstitutionell-Demokratische Partei (CDP), nach der LDP die zweitstärkste Kraft im Unterhaus, hat mit der JCP, der ältesten Partei im Unterhaus, sowie den beiden Klein-Parteien SDP und Reiwa Shinsengumi eine Kooperation vereinbart. In 217 von 289 Wahlkreisen haben sie gemeinsame Kandidaten aufgestellt. Zum Beispiel in dem von Saori Ikeuchi. Kein CDP-Mensch wird ihr Stimmen wegnehmen. "Das ist sehr bahnbrechend", sagt sie.

Dass ein politischer Wandel zwingend bevorstünde, kann man trotzdem nicht sagen. Die Vorgeschichte dieser Wahl erzählt eher davon, wie Japans politisches System die nationalistischen Kräfte in der Regierungspartei LDP begünstigt. Nach Sugas Rücktritt gab es in den Medien fast nur ein Politik-Thema: den LDP-internen Wahlkampf um seine Nachfolge. Diesen entschied der exklusive Kreis der LDP-Abgeordneten am Ende fast allein. Der neue Premierminister Kishida nutzte dann eilig sein Recht, das Parlament aufzulösen, und setzte die Neuwahlen überraschend für den 31. Oktober an, um möglichst früh vom Zauber des neuen Anfangs und stark gesunkener Covid-19-Zahlen zu profitieren.

Im neuen Kabinett: 17 Männer, drei Frauen

Die Besetzung seines neuen 20-köpfigen Kabinetts liest sich wie eine Wunschliste seines mächtigen Unterstützers, des rechtskonservativen Ex-Premiers Shinzo Abe. Sie umfasst zwei 77-jährige Debütanten und nur drei Frauen. Dafür verloren angesehene Gegenspieler ihre Ministerposten. Kishida hat mittlerweile auch sein Bekenntnis zu einem sozialeren Japan-Kapitalismus zurückgestellt, um die Großunternehmen nicht zu verschrecken, die mit Abes neoliberaler Abenomics-Politik gut lebten. Und wie es sich für einen nationalistischen Japan-Chef gehört, spendete er eine Masakaki-Statuette an den Yasukuni-Schrein in Tokio, in dem diverse Kriegsverbrecher in Ehren gehalten werden.

Neuanfang? Nicht zu erkennen. Und genau das scheint den Erfolg der LDP auszumachen.

"Man kann nicht so viel erwarten", sagt die Rentnerin Aiko Yamaya, 81, in einem ruhigen Teil des Tokioter Bezirks Adachi. Die Gegend liegt im Wahlkreis von Saori Ikeuchi. Sozialwohnblocks, niedrige Häuser. Aiko Yamaya kommt mit dem Rad vom Einkaufen. Von der LDP hält sie wenig, weil diese Sozialstaat und Gesundheitsversorgung knapphalte. "Japan ist nicht so fortschrittlich im Vergleich zu anderen Ländern", sagt sie, "ich hoffe, dass es einen Wechsel gibt." Aber sie glaubt nicht daran. Der Fischhändler Masashi Higuchi, 40, der ein paar hundert Meter weiter im Laden seines Vaters am Kühlregal steht, sagt sogar: "Einen Wechsel kann es nicht geben."

Das Desinteresse der Menschen hilft der Regierung

Einmal wurde die LDP abgewählt. 2009 war das, nach dem Lehman-Schock und einer Serie von Skandalen. Da hatte das ganze Land mal genug von den konservativen Parteibonzen. Die Demokratische Partei Japans (DPJ) feierte einen Erdrutschsieg. Es folgten drei Jahre mit drei Premierministern, Fehleinschätzungen, verprellter Elitebürokratie und Missmanagement nach der Nuklearkatastrophe von Fukushima.

2012 brachte Shinzo Abe die LDP unter dem Motto "Japan zurückgewinnen" wieder an die Macht. Die DPJ zerbrach. Aber ihr Vermächtnis ist das verbreitete Misstrauen gegen Alternativen zur LDP. Die LDP wiederum kann sich auf die Stimmen verlassen, die große Firmen, ganze Branchen oder rechtsradikale Organisationen wie Nippon Kaigi binden.

Ein JCP-Bus parkt auf der Verkehrsinsel vor dem Bahnhof mitten im Alltagstrubel des Stadtteils Ikebukuro. Auf dem Dach ist eine Empore aufgebaut, dort steht Saori Ikeuchi am Mikrofon und redet. Für eine ausgewogenere Gesundheitspolitik. Für Gleichstellung. Für Energiewende ohne Atomstrom. Der Verkehr rauscht. Die Reklame an den Hochhäusern leuchtet. Menschenmassen eilen vorbei. Nur ein paar Anhänger hören Ikeuchi zu. Das Desinteresse hilft der LDP. Und natürlich auch das aufwendig gepflegte Vorurteil gegen alles, was links ist.

Seit April 2020 dürfen keine ausländischen Gäste mehr ins Land

Ein anderer Tag, ein anderer Ort. Shiojiri. Wahlkreis Nagano vier. Ein Idyll zwischen Bergen mit großem Schrein, Gewerbegebieten und Landwirtschaft. Aber auch ein Beispiel für Japans Probleme im ländlichen Raum. Der demografische Wandel prägt Teile des Wahlkreises. Der Tourismus leidet, weil die Regierung zum Covid-19-Schutz seit April 2020 keine ausländischen Gäste mehr ins Land lässt. Der örtliche LDP-Abgeordnete Shigeyuki Goto gehört zu denen, die Japans Kriegsschuld relativieren und damit das Verhältnis zu Südkorea und China belasten. Auch Goto, 65, hat dem Yasukuni-Schrein zuletzt eine Masakaki-Statuette gespendet. Er ist ein früherer DPJ-Mann, hat sich aber im rechtskonservativen Establishment derart bewährt, dass er zum neuen Gesundheitsminister befördert wurde.

Seine Gegenspielerin ist Yukiko Nagase, 53, eine weitere JCP-Kandidatin aus dem neuen Oppositionsbündnis. Sie fordert einen selbstkritischen Umgang mit der Kriegsgeschichte Japans. Und sie will für Menschen Politik machen, nicht nur für Firmen. "Resignation muss in Hoffnung verwandelt werden", sagt sie. Aber ob sie jemand hört? Ihr Bus parkt vor einem Einkaufszentrum in Shiojiri. Sie winkt und redet. Für soziale Gerechtigkeit, für Gleichstellung. Aber kaum jemand ist da. Autos fahren vorbei, hin und wieder kommt ein Passant. Die Rentnerin Mizue Nakano, 81, hat sich wenigstens einen Flyer geben lassen. Sie sagt, sie wäre für einen Regierungswechsel. "Aber das ist schwierig." Sie weiß ja zum Beispiel, wie ihre Nachbarn sind. "Die sind sehr für Komei-to." Für den kleinen buddhismusnahen Koalitionspartner der LDP. "Ich höre ihnen zu und wähle die Opposition." Aber mit der JCP ist ihr auch nicht ganz wohl. Klinge alles schön, was die sagen. Aber was passiert, wenn die Kommunisten aus Japan ein zweites China machen?

Die Einheit des Widerstands ist brüchig

Das ist nicht der Plan der JCP. "Die Richtung der Reform ist sozialdemokratisch", sagt Saori Ikeuchi. Am Ende ihres langen ersten Wahlkampftages sitzt sie wieder im Parteibüro in Kita. Sie wirkt nicht erschöpft. Mehr Mindestlohn, niedrigere Mehrwertsteuer, höhere Steuern für Großunternehmen und auf Aktiengewinne - das sind die Ideen gegen die extrem wirtschaftsfreundliche LDP-Politik. Für Japans Kollektivgesellschaft, in der man persönliche Ansprüche klein hält, sind sie revolutionär. Die Frage ist, ob das neue Bündnis sie je umsetzen kann.

Die JCP hat zugesagt, eine CDP-Regierung ohne Anspruch auf Kabinettsposten zu unterstützen. Aber die CDP-Leute um den Politikprofi Yukio Edano sind eher gemäßigte Konservative als amerikaskeptische Sozialdemokraten. Die Vorstellungen liegen teilweise weit auseinander. Saori Ikeuchi kann das nicht verbergen, bei aller Zuversicht. Was sie von Edano halte? Über ihr Gesicht huscht ein Ausdruck von Nachsicht. Der Chef der Partnerpartei ist nicht ihr Traumpolitiker. Die Einheit des LDP-Widerstands ist brüchig.

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