Italien:Kühlendes Bad in der Wirklichkeit

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Die beiden VizePremiers liegen inzwischen in wichtigen politischen Fragen über Kreuz: Italiens Arbeits- und Sozialminister Luigi Di Maio (links) von den Cinque Stelle und Innenminister Matteo Salvini von der rechten Lega, hier nach der Vereidigung. (Foto: Alberto Pizzoli/AFP)
  • 100 Tage im Amt haben bewirkt, dass die populistische Regierung in Rom langsam in der Wirklichkeit ankommt.
  • Investoren ziehen ihr Geld ab, die Wirtschaft des Landes schwächelt.
  • Entscheidend wird nun sein, wie die Koalitionäre ihren ersten Haushalt gestalten.

Von Oliver Meiler, Rom

Plötzlich werden die Töne leiser und die Umgangsformen feiner, über Nacht, buchstäblich. Zum hundertsten Tag ihrer Regierung scheinen die neuen Mächtigen in Rom ein kühlendes Bad in der Wirklichkeit zu nehmen. Wirtschaftlich geht es Italien nicht so gut. Investoren ziehen ihr Geld ab, internationale Ratingagenturen stufen die Aussichten des Landes als "negativ" ein, der eigene Industriellenverband macht sich Sorgen. Und so hört man die sonst so forschfröhlichen Herrschaften von Lega und Cinque Stelle auf einmal sagen, Italien werde "natürlich" seinen Verpflichtungen in Europa nachkommen, es habe keine abenteuerlichen Budgetvolten vor, sondern strebe einen Haushalt "für Stabilität und Wachstum" im Einklang mit den Vorstellungen der Kommissäre an.

Der Tonwechsel ist denkwürdig. Vor wenigen Tagen war man noch bereit gewesen, Brüssel und die Märkte frontal herauszufordern, nach dem Motto: Zuerst kommen die Italiener, "prima gli italiani". Doch was heißt das schon? In Zeiten, da das gesagte Wort oftmals nicht einmal seinen eigenen Widerhall überlebt, können sich auch die Grundmuster des Handelns mal eben so ändern. Oder um es mit einem Bild aus der Akrobatik zu beschreiben: Die römischen Populisten vollführen gerade eine Serie von Rückwärtsrollen, dass davon so manchen Wählern, die auf die ganz große und schnelle Revolution gehofft hatten, der Kopf vor allem ganz duselig werden könnte.

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Grund ist seine Weigerung, gerettete Flüchtlinge an Land zu lassen. Der Lega-Chef spricht von einer "politischen Aggression".

Von Oliver Meiler

Die jüngste Kapriole zur Impfpflicht ist besonders sensationell, vielleicht die symbolhafteste von allen. Über Monate hinweg, vor und nach den Wahlen, hatten die Populisten den Impfkritikern unter den Italienern verheißen, man lasse sich nicht von der Pharmaindustrie und anderen mies beleumdeten Mächten vorschreiben, mit welchen Antikörpern der Nachwuchs ins Leben geschickt werde. Die Rede war davon, die Pflicht für Schulkinder wieder abzuschaffen, die erst vor Kurzem eingeführt wurde, weil die Impfquoten gefährlich tief gesunken waren. Die neue Regierung wollte eine "flexible Verpflichtung", ein Widersinn im Wort. Jetzt aber fiel auch diese Idee dem neuen Realitätssinn zum Opfer.

Der harte Kurs gegen Flüchtlinge hat Salvinis Popularität gesteigert. Aber erreicht hat er damit wenig

Eine linke Zeitung titelte: "Vaccinati" - geimpft. Gemeint war, dass die selbst ernannte "Regierung des Wandels" nun, da sie an der ersten wichtigen Wegmarke ihrer Amtszeit angelangt ist, der kindlichen Phase entwächst. Und das ist eine wesentliche Erkenntnis, wenn sie denn nicht schon bald wieder überholt ist. Europa schaut ja mit Spannung und Sorge nach Italien. Nie zuvor haben europaskeptische bis europafeindliche Kräfte ein großes europäisches Land regiert, ein Gründungsmitglied der Union zudem.

Der Kanon der Gepflogenheiten war rasch gebrochen. Mit seinem Umgang mit den Bootsflüchtlingen im Mittelmeer sicherte sich Innenminister Matteo Salvini, Chef der rechtsextremen Lega, alle Schlagzeilen. Aquarius, Diciotti, Lifeline - die Namen der Rettungsschiffe, denen er das Einlaufen in italienische Häfen verwehrte oder die er tagelang warten ließ, trägt er wie Orden an seinem Revers. Der harte Kurs hat seine Popularität gesteigert. Erreicht hat er damit aber nicht viel: Die Überfahrten waren schon zurückgegangen, bevor er in die Verantwortung kam, und Europa hat sein Aufnahme- und Verteilsystem seitdem nicht geändert. In Erinnerung bleibt die ständige Provokation.

In hundert Tagen ist die Regierung von Premier Giuseppe Conte, einem stillen Statisten im eigenen Kabinett, nur 17 Mal zusammengekommen. Fünf Mal traf man sich, um Posten untereinander aufzuteilen, zwei Mal, um die Notlage nach dem Brückeneinsturz in Genua zu besprechen. Im Schnitt dauerten die Ministerratssitzungen 52 Minuten, auch das ist ein tiefer Wert. Konkret kamen dabei fünf Dekrete heraus, von denen nur eines, das sogenannte "Würdedekret" der Cinque Stelle für eine Besserstellung prekär angestellter Arbeitnehmer, tatsächlich relevant ist. Die "goldenen Renten" der privilegierten Kaste? Erst angekratzt. Die hohen Entschädigungen der Parlamentarier? Nicht mal angetippt. Und in vielen Fragen von wirklich strategischer Bedeutung, etwa großen Infrastrukturprojekten, stehen sich die wirtschaftsliberale Lega und die eher ökologischen Fünf Sterne unvereinbar gegenüber.

Von einer Abschaffung der Rentenreform redet niemand mehr

Entscheidend wird nun sein, wie die Koalitionäre ihren ersten Haushalt gestalten. Der Spielraum ist eng, eigentlich ist gar kein Geld da für die Umsetzung der teuren Versprechen. Würde man sie summieren, würden sie den italienischen Staat mehr als 100 Milliarden Euro kosten. Die "Flat Tax" der Lega, die das nationale Steuersystem revolutionieren soll, wird es vorerst höchstens für Unternehmen geben. Statt eines Grundeinkommens für Arbeitslose, wie es die Fünf Sterne sofort einführen wollten, spricht man von einer Polsterung der Arbeitslosenkasse. Von einer Abschaffung der Rentenreform, der umstrittenen "Legge Fornero", redet niemand mehr.

Vor einigen Tagen hieß es noch, man werde die alte Maastrichter Defizitvorgabe von drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts "durchbrechen" oder wenigstens "streifen", egal, was die "Signori" in Brüssel davon hielten. Prima gli Italiani! Nun peilt man offenbar eine Quote von zwei Prozent an, was noch immer weit über den 0,8 Prozent läge, die Italien ausgehandelt hat für 2019. Und natürlich bräuchte es dafür die Zustimmung der "Signori" aus Brüssel. Ohne die geht am Ende gar nichts. Diese bemerkenswerte Einsicht setzt sich gerade durch, auch bei Salvini.

© SZ vom 07.09.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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