Israel:Netanjahu hält wieder die Macht in Händen

Lesezeit: 4 Min.

Zum sechsten Mal im Amt: Der neue alte Premier Benjamin Netanjahu nach seiner Ansprache im Parlament. (Foto: AMIR COHEN/IMAGO)

Nach einer turbulenten Knesset-Sitzung gewinnt die neue rechts-religiöse Regierung die Vertrauensabstimmung. In deren Plänen sieht die Opposition nicht weniger als eine Gefahr für die Demokratie

Von Peter Münch, Tel Aviv

Auf diesen Augenblick hat er gewartet, alles hat er dafür gegeben, und nun kann jeder sehen, wie er ihn genießt: Nach 563 Tagen in der Ödnis der Opposition steht Benjamin Netanjahu wieder als Premierminister vor dem israelischen Parlament, selbstbewusst, staatsmännisch und mit einem sanften Lächeln im Gesicht, das wohl demonstrieren soll, wie gelassen er über all dem Streit schwebt, der da unten im Plenum und draußen im Lande tobt.

Netanjahu weiß, dass dieser Tag in die Geschichte eingehen wird, auch wenn noch niemand weiß, wie die Geschichte endet. An diesem 29. Dezember 2022 respektive am 5. Tag des Monats Tevet im Jahre 5783 ist unter seiner Führung die rechteste und religiöseste Regierung eingeschworen worden, die jemals in Israel am Ruder war. Mit 63 zu 54 Stimmen hat sie nach einer selbst für hiesige Verhältnisse stürmischen Parlamentssitzung die Vertrauensabstimmung gewonnen. Nun kann regiert werden - durchregiert, wie manche befürchten.

Für Netanjahu selbst ist es ein Tag neuer Rekorde: Seit einem Vierteljahrhundert schon, seit seiner ersten Amtszeit in den Jahren 1996 bis 1999 dominiert er die israelische Politik. Zum zweiten Mal ist ihm nun ein Comeback als Regierungschef gelungen, zum sechsten Mal führt er ein israelisches Kabinett, und mit einer kumulierten Amtszeit von mehr als 15 Jahren hat er jetzt schon jeden seiner Vorgänger inklusive den Staatsgründer David Ben-Gurion weit hinter sich gelassen. Sein Vermächtnis aber, das wird Netanjahu mit seinen 73 Jahren zumindest erahnen, dürfte ganz entscheidend davon abhängen, wie und wohin diese neue Regierung das Land führt.

Chaos oder neue Größe?

Ins "Chaos", wie es der israelische Schriftsteller David Grossman unter dieser Überschrift in einem durchweg düsteren Aufmacher für die linksliberale Zeitung Haaretz am Tag vor der Vereidigung prophezeite? Oder zu neuer Größe und Stärke, wie es Netanjahu selbst verheißt bei der Vorstellung seines Programms und seiner Ministerriege im Parlament? Klar ist zumindest eins: Es ist kein leichter Weg, der sich vor dem Regierungschef eröffnet.

Auf was er sich eingelassen hat in diesem Bündnis seines Likud mit den beiden ultraorthodoxen Parteien Schas und Vereinigtes Thora-Judentum sowie den drei rechtsextremen Fraktionen unter den Namen Religiöse Zionisten, Jüdische Stärke und Noam, das konnte Netanjahu in den knapp zwei Monaten schon erleben, die seit der Wahl vergangen sind. Angekündigt hatte er eine Art Spaziergang zur Regierungsbildung, nach zwei Wochen wollte er die Verhandlungen abgeschlossen haben. Es wurde ein wildes Querfeldein-Rennen mit Hürden, Gräben und fiesen Fallen.

Vor der Knesset demonstrierten am Donnerstag viele Menschen gegen die neue Regierung von Benjamin Netanjahu. (Foto: AHMAD GHARABLI/AFP)

Herausgekommen ist ein Kabinett mit 31 Ministern, in dem sich nur fünf Frauen und einige heftig umstrittene Männer finden. Der verurteilte Steuerbetrüger und Schas-Parteichef Arye Deri darf dank einer eiligen Gesetzesänderung Minister werden, erst für Inneres, später für Finanzen. Als Minister für Nationale Sicherheit bringt der rechtsextreme Itamar Ben-Gvir Verurteilungen wegen Aufhetzung und Unterstützung einer terroristischen Vereinigung mit ins Amt. Und der radikale Siedler Bezalel Smotrich ist neben seiner Aufgabe als Finanzminister auch noch zuständig für die zivile Verwaltung des Westjordanlands einschließlich des Siedlungsbaus.

Frontalangriff auf die Gewaltenteilung

Aus diesen Personalien leiten sich auch die politischen Prioritäten ab. "Das jüdische Volk hat ein alleiniges und unumstößliches Recht auf alle Teile des Landes Israel", heißt es in den Leitlinien der Koalition. Zu Israel gehört demnach auch das besetzte Westjordanland, das von den Koalitionären nur unter dem biblischen Namen Judäa und Samaria geführt wird. Dort soll der Siedlungsbau vorangetrieben werden, für einen Palästinenserstaat bleibt da kein Platz.

Angekündigt wird in den Leitlinien zudem eine "angemessene Balance zwischen Legislative, Exekutive und Judikative". Hinter dieser vorsichtigen Formulierung lauert ein Frontalangriff auf die Gewaltenteilung. Der Einfluss des Obersten Gerichts soll beschnitten, die Richterernennung politisiert werden. Und nebenher schwelt die Frage, wie es mit Netanjahus Korruptionsprozess weitergeht, wenn erst einmal aufgeräumt wird im Justizwesen.

Jair Lapid wird nun die Opposition anführen, er nannte die neue Regierung bereits "gefährlich, extremistisch und unverantwortlich". (Foto: AMIR COHEN/IMAGO/UPI Photo)

Aufreger hat die neue Koalition ohnehin schon reichlich produziert, bevor sie überhaupt mit dem Regieren begonnen hat. Dazu zählen zum Beispiel die Schwarzen Listen der Noam-Partei zu homosexuellen Journalisten, Feministinnen oder vermeintlich linken Mitarbeitern des Justizministeriums. Noam-Chef Avi Maoz zieht nun als Vizeminister ins Amt des Premiers ein mit Zuständigkeit für die "nationale jüdische Identität". Oder jener Passus im Koalitionsabkommen, der es künftig Ärzten, Händlern oder Hoteliers erlauben soll, bestimmten Bevölkerungsgruppen aus Gründen der religiösen Überzeugung die Dienste zu versagen.

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Netanjahu hatte deshalb schon in den vergangenen Wochen alle Hände voll damit zu tun, zu beschwichtigen, klarzustellen oder sich von seinen Partnern zu distanzieren. Das Regieren verspricht unter diesen Voraussetzungen ein Balanceakt mit ständiger Absturzgefahr zu werden. Und dabei steht der Premier unter scharfer Beobachtung - zu Hause wie auch im Ausland.

In Washington hat Außenminister Antony Blinken bereits klargestellt, die USA würden sich "unmissverständlich allen Handlungen entgegenstellen, die die Aussichten auf eine Zweistaatenlösung untergraben". Am Tag vor der Vereidigung meldete sich noch Jordaniens König Abdullah II. zu Wort und warnte die neue israelische Regierung vor dem Überschreiten "roter Linien". Doch vor allem in Israel selbst hat sich ein lauter Chor von Stimmen erhoben, die nun öffentlich mahnen und klagen.

Mehr als 1000 Veteranen der Luftwaffe haben einen Brief geschrieben, weil sie den "demokratischen Staat in Gefahr" sehen. Pensionierte Richter und Juradozenten warnen davor, den "Rechtsstaat zu beschädigen". Manager der High-Tech-Industrie haben sich zusammengefunden, weil sie eine Flucht ausländischer Investoren befürchten.

Demonstration vor der Knesset

So wehrt sich nach anfänglicher Schockstarre jene knappe Hälfte der Israelis, die bei der Wahl am 1. November nicht für Netanjahu und Co. gestimmt hatte. Ein paar tausend Demonstranten haben sich am Donnerstag auch vor der Knesset eingefunden zum Protest, ausgerüstet mit Israel-Fahnen und der Regenbogenflagge.

Doch die Hauptlast wird in Zukunft jener Mann zu tragen haben, der das Premiersamt nun an Netanjahu übergeben hat und künftig als Oppositionsführer in der Knesset sitzt. Jair Lapid hat reichlich Zeit gehabt in den vergangenen Wochen, die Nachfolger als "gefährlich, extremistisch und unverantwortlich" zu geißeln. Bei seinem letzten Auftritt als Regierungschef in der Knesset am Donnerstagmorgen aber gibt er Netanjahu nur noch einen kurzen Satz mit auf den Weg: "Ruinieren Sie das Land nicht", sagt er, "wir werden bald zurück sein."

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