Irland:Sohn in Paris, Tochter in Australien

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Leerstehende Geschäfte in Caherciveen in Irland. (Foto: Eisenreich)
  • Ein Fünftel der jungen Iren ist seit 2009 ausgewandert.
  • Im Ort Caherciveen ist sichtbar, was diese Zahl bedeutet: Wer hier Kinder über 20 hat, hat fast immer Kinder im Ausland.

Von Ruth Eisenreich, Caherciveen

Colman Quirkes Laden wirkt ziemlich belebt. Alle paar Minuten begrüßt der 54-Jährige einen neuen Kunden mit Vornamen. Sie plaudern mit ihm über das letzte Gaelic-Football-Spiel, kaufen die Lokalzeitung Kerryman oder ein paar Süßigkeiten und steigen wieder in ihre Autos. Die meisten von ihnen sind über 40 - und das ist Quirkes Problem. Um 25 Prozent sei sein Umsatz in den vergangenen sechs Jahren eingebrochen, weil seine wichtigste Zielgruppe verschwunden sei, sagt er: die jungen Berufstätigen, 20 bis 30 Jahre alt, ohne Kinder, ohne Hypothek. "Das Mädchen, das drei Magazine gekauft hat; der Junge, der wegen einer Autozeitschrift kam und dann noch ein Buch oder ein Geschenk mitgenommen hat."

Trauriger EU-Rekord

Zwischen den letzten beiden Volkszählungen 2006 und 2011 hat Quirkes Heimatort Caherciveen im Westen Irlands fast ein Zehntel seiner Einwohner verloren, und Quirke schätzt, dass seither noch einmal so viele gegangen sind. Die meisten von ihnen sind jung, und sie sind nicht einfach in die Stadt gezogen. Sie haben Irland verlassen, leben in England, in den USA oder in Australien. 2009, zu Beginn der Wirtschaftskrise, lebten in Irland 535 000 gebürtige Iren der Jahrgänge 1984 bis 1993. Fünf Jahre später waren es 21 Prozent weniger. Ein trauriger EU-Rekord.

In Caherciveen ist sichtbar, was diese Zahl bedeutet. Wer hier Kinder über 20 hat, hat fast immer Kinder im Ausland. Die Kunstlehrerin Majella O'Sullivan etwa: zwei erwachsene Söhne, einer davon in San Francisco. Oder der Rentner Leonard Hurley, ein ehemaliger Kollege von ihr: vier Kinder, davon ein Sohn in Paris und eine Tochter in Australien.

Die Auswanderung ist seit Jahrhunderten Teil Irlands. Hunderte Lieder besangen und besingen die "amerikanische Totenwache", also den Abschied der Emigranten, ihre Sehnsucht nach der Heimat. Auch der Schreibwarenhändler Quirke hat eine Schwester in England und einen Bruder in den USA.

Aber während des Booms von der Mitte der 1990er bis 2008 schien der "keltische Tiger" Irland die Tradition der Auswanderung hinter sich zu lassen. Dass sie nun zurück ist, spiegelt die reale wirtschaftliche Lage des Landes, von dem es heißt, es habe die Krise dank eines harten Sparkurses längst überwunden. "Die Erholung geschieht in zwei Geschwindigkeiten", sagt Piaras MacEinri, Geografieprofessor und Migrationsforscher am University College Cork. In Dublin und Umgebung sei der Aufschwung zu spüren, auf dem Land bisher allerdings kaum.

Hotel verfällt, Pub ist geschlossen

Caherciveen liegt an der Touristenroute Ring of Kerry, auf einer Halbinsel voll sanfter grünbrauner Hügel, grauer Steinmäuerchen und felsiger Küsten. Der Fluss Fertha fließt strahlendblau parallel zur Hauptstraße und mündet kurz darauf in den Atlantik. Glaubt man den Erzählungen, war Caherciveen mit seinen bunten, zweistöckigen Giebelhäusern einmal auch außerhalb der Touristensaison ein blühendes Städtchen. Heute verfällt am Ortseingang ein Hotel, die Schaufensterscheiben des "Hair Studio" und von "Cosy's Café" haben Staub angesetzt. Das Pub "The Daniel O'Connell", benannt nach dem hier geborenen irischen Nationalhelden, ist geschlossen und zu verkaufen. Mehrere Läden auf der Hauptstraße sind mit Spanplatten vernagelt.

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Ein kalter Abend in Caherciveen, zwei Männer stehen rauchend vor dem Pub "Frank's Corner". Auch sie haben Kinder im Ausland. Dermot Foley erzählt, sein Sohn sei Bauingenieur, er habe Irland gleich zu Beginn der Krise verlassen, lebe jetzt in Vancouver. Seit fünf Jahren habe er ihn nicht mehr gesehen. Ob der Sohn hier einen Job . . .? Foley hört die Frage gar nicht zu Ende an: "Nein", sagt er.

Die irische Bauwirtschaft boomte um die Jahrtausendwende, in der Krise brach sie als Erstes zusammen. Die größte Gruppe der Auswanderer kommt wie Foleys Sohn aus dem Baugewerbe, viele andere aus den Branchen Gesundheit, Technik, Industrie - Felder, in denen es früher auch in Orten wie Caherciveen Jobs gab. Unternehmen und die Politik versuchen nun, da das Bruttoinlandsprodukt wieder steigt, Auswanderer zurückzuholen. Aber Foley traut dem offiziell registrierten Aufschwung nicht, er sagt: "Ich würde meine Kinder nicht ermutigen zurückzukommen".

Die Polizeistation in Caherciveen ist nur noch tagsüber besetzt

Nicht nur private Unternehmen litten in der Krise, mussten schließen, auch die Regierung sparte, etwa bei der Polizei, der Garda Síochána; die Garda-Station in Caherciveen ist nur noch tagsüber besetzt. Ähnliches gelte für den Rettungsdienst, erzählen Einwohner. In Caherciveen fragt man sich, wie sehr ein Dorf schrumpfen kann, bevor es stirbt. "Ich habe dieses schreckliche Bild im Kopf", sagt Ladenbesitzer Quirke: "Caherciveen als eine Art Seebad, das sechs Monate im Jahr zugesperrt ist". Er denkt dabei auch an die beiden Grundschulen des Ortes, die wegen sinkender Schülerzahlen zusammengelegt wurden, und an konkurrierende Rugby- und Gaelic-Football-Clubs, die fusionieren mussten.

Colman Quirkes älteste Tochter, 25, ist nach zwei Jahren in Japan für ihren Master nach Irland zurückgekehrt. Die ersten Wochen, bevor die Uni in Galway losging, verbrachte sie zu Hause, erzählt Quirke. Die meiste Zeit saß sie vor dem Laptop. "Gehst du nicht aus?", fragte der Vater eines Abends. "Mit wem denn?", antwortete sie. Für Gespräche mit ihren Freunden braucht sie das Internet, denn die leben in Großbritannien und in den USA. Quirke ist überzeugt, dass auch seine Tochter das Land verlassen wird, wenn sie mit der Uni fertig ist.

Die Reise wurde durch ein Stipendium der Karl-Gerold-Stiftung ermöglicht.

© SZ vom 31.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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