Interview:"Auch wo Bildung zweckfrei ist, kann sie sinnvoll sein"

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Niemand hat das Amt des Kultusministers so geprägt wie Hans Maier, früher oberster Bildungspolitiker Bayerns. Heute ist er 90 Jahre alt - und beobachtet mit Argwohn, wie sich die Schulen verändern.

Interview von Stefan Braun

Ist das mit der Bildungspolitik wirklich so schlimm? War's nicht immer schon so? Auf der Suche nach Antworten lohnt ein Gespräch mit dem Mann, der das Amt des Kultusministers geprägt hat wie kein anderer. Manche sagen sogar, er habe ihm erst Bedeutung gegeben: Hans Maier, von 1970 bis 1986 Kultusminister in Bayern. In wenigen Wochen feiert er seinen 90. Geburtstag; nach wie vor lebt der ehemalige Wissenschaftler, Ex-Politiker und Noch-immer-Organist (regelmäßig samstags in der Maria Immaculata in München) mit seiner Frau in Harlaching. Auch wenn man ihn coronabedingt nur per Mail erreicht, merkt man schon nach den ersten Zeilen, dass Maier sein Lebensthema nie losgelassen hat.

SZ: Herr Maier, wie würden Sie, mit Ihrer Erfahrung, den Zustand der Bildungspolitik beschreiben?

Hans Maier: In den vergangenen Jahrzehnten ist quantitativ viel erreicht worden, das sollte man nicht vergessen. Nur einige Stichworte: neue Schulen, auch auf dem Land, neue Hochschulen, Lernmittelfreiheit, kostenloser Schulweg, das Ende der Körperstrafen im Schulwesen, Maßnahmen gegen die Benachteiligung der Mädchen. Zugleich bilden Schulen und vor allem Hochschulen heute nicht mehr eine Gegenwelt zum Staat - wie zum Teil noch in der Weimarer Republik. Erziehung schließt inzwischen ganz selbstverständlich auch politische Bildung ein.

Woran krankt das Bildungswesen aus Ihrer Sicht heute am meisten?

Im Augenblick steht natürlich wegen Covid-19 vieles still. Doch sollte man die tiefer liegenden Probleme nicht vergessen. Zum Beispiel: Erinnern heutige Schulen noch an ihren ursprünglichen Sinn? Schule, schola, das hieß ja einmal Muße. Vor der Schule als Pflicht gab es schon die Schule als Muße - ganz ohne Nützlichkeitsdenken. Ohne starren Blick auf die Zukunft, ohne die ständige Frage: "Was bringt's?" Auch in Schulen und Hochschulen, meine ich, sollte Bildung ihr pädagogisches Eigenrecht zurückgewinnen. Auch wo Bildung zweckfrei ist, kann sie sinnvoll sein und bereichernd auf den zwischenmenschlichen Umgang einwirken. Und: Gibt es noch ein Verständnis von Bildung, das allen eigen ist, um das sich alle oder wenigstens die meisten mühen? Einen Kanon des Wissenswerten, Wissensnotwendigen? Und zugleich eine Sprache, die alle oder fast alle verstehen: die Examinierten wie die Nicht-Examinierten, die Fachleute wie auch die ganz normalen Bürgerinnen und Bürger? An einem solchen Verständnis muss gearbeitet werden, hier müssen möglichst viele, Pädagogen wie Künstler und Wissenschaftler, kritisch zusammenwirken. Nur so kann Kultur entstehen, nur so kann Kulturpolitik sie fördern und weiterbilden.

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Sie sind selbst 17 Jahre lang Kultusminister in Bayern gewesen. Was hat Sie an dieser Aufgabe gereizt?

Als mir Ministerpräsident Alfons Goppel Ende 1970 dieses Amt anbot, habe ich zunächst gezögert. Ich war ja parteilos, ohne Landtagsmandat, ohne politische Macht - ein Professor eben, wenn auch als Politikwissenschaftler nicht weit weg von der Politik. Doch die Neugier auf das, was mich erwartete, war stärker. Selbst im Fall des Scheiterns, dachte ich, hätte man etwas dazugelernt, das man im Seminar, aus Büchern, nicht hätte lernen können.

Spielte es für Sie eine Rolle, ob Sie eine Bildungspolitik der CSU verkörpern? Oder wollten Sie einfach ein guter Kultusminister sein?

Zunächst war ich ja parteilos. Das hat Vorteile: Man ist ungebundener. Aber der große Nachteil: Man ist abgeschnitten von der politischen Meinungs- und Willensbildung. In einer Parteiendemokratie muss aber der Kultusminister, der ja ein wichtiges Amt hat, bei den politischen Entscheidungen mit am Tisch sitzen. So bin ich 1973 - aus eigenem Entschluss und von niemandem gedrängt - der CSU beigetreten, der ich bis heute angehöre.

Welchen Stellenwert hatte das Kultusministerium im Vergleich zu anderen Ministerien wie Finanzen oder Innen?

Es hat den größten Etat und die umfangreichsten Zuständigkeiten. Es symbolisiert die Kulturhoheit der Länder - und in einem weiteren historischen Horizont den säkularen Übergang der Erziehung von der Kirche an den Staat. Daher ja der Name Kultusministerium, in Stuttgart früher sogar "Kultministerium". Das Kultusministerium ist aber auch das angefochtenste Ressort. Besonders die Schulen bilden eine riesige Reibungsfläche - wie viele Väter und Mütter, wie viele Bürger und Wähler haben nicht ihre Kinder dort! In den Siebzigerjahren, nach 1968, galt das Kultusministerium als Schleudersitz, als "elektrischer Stuhl", und man sagte: kein Kultusminister in Bayern sei je eines natürlichen Todes gestorben!

Heute werden die Jobs der Kultusminister und Kultusministerinnen bei einer Kabinettsbildung als Letztes vergeben. Keiner will es so recht machen; dann werden halt Quoten erfüllt. Wie konnte es so weit kommen?

Da hat sich viel geändert. In meiner Amtszeit war Kulturpolitik noch ein breites Eingangstor zur allgemeinen Politik - man denke nur an Personen wie Klaus von Dohnanyi und Bernhard Vogel. Heute ist das nicht mehr so. Umweltpolitik, Innenpolitik, Wirtschafts- und Finanzpolitik sind an die Stelle der Kulturpolitik getreten; diese wurde vielfach aufgesplittert in Ressorts für Schulpolitik, Hochschulpolitik, Kunstpolitik. Kaum gibt es noch Kultusministerien, deren Zuständigkeit von Kindergärten und Schulen bis zu Hochschulen, Theatern, Orchestern, Denkmalpflege reicht.

Worauf führen Sie das zurück?

Alles hat seine Zeit. Im Augenblick gedenken die Medien des russischen Kosmonauten Juri Gagarin, der am 12. April 1961 als erster Mensch in den Weltraum flog - mit dem Sputnik, heute der Name für einen russischen Impfstoff gegen Covid-19. Dieser russische Erfolg löste im Westen den sogenannten Sputnikschock aus. Hatte man etwas versäumt? Überall traten Wissenschaft und Bildung in den Vordergrund, der Westen nahm den Wettlauf mit dem Osten auf. Und damit traten für gut zwei Jahrzehnte an vielen Orten die Kulturpolitiker in den Vordergrund - in amerikanischen Stiftungskreisen ging damals der Spruch um: "Sag education - und du hast gewonnen!" Manches wurde in der Folge wohl auch überdreht. Aber ich freue mich doch, dass ich den Sturm der Bildungsexpansion noch mitbekommen habe.

Wenn Sie könnten, wie Sie wollten - was würden Sie heute als Erstes ändern?

Gern würde ich vor die Fachbildung die Herzensbildung setzen. Aber das zu erreichen hat in der bisherigen Menschengeschichte nicht einmal der liebe Gott geschafft.

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