Indien:Urteil mit Sprengkraft

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Das Verfassungsgericht entscheidet in der umstrittensten religiösen Frage des Landes zugunsten der Hindus. Diese dürfen in Ayodhya nun einen Tempel bauen, die Muslime sollen andernorts ein Stück Land erhalten.

Von Arne Perras, Singapur

Hindus feiern in Ayodhya das Urteil des Obersten Gerichts über ein heiliges Areal. Der Streit zwischen Hindus und Muslimen hatte 1992 zu Ausschreitungen mit mehr als 2000 Toten geführt. (Foto: Rajesh Kumar Singh/dpa)

Das Urteil der indischen Verfassungsrichter fiel einstimmig aus. Aber es ist nicht gewiss, ob ihre Entscheidung zur Landfrage in Ayodhya tatsächlich einen der explosivsten Streitfälle zwischen Hindus und Muslimen in Südasien beilegen kann. Es geht um einen Hektar heiligen Landes, auf den beide religiöse Gruppen gleichermaßen Anspruch erheben. Der Streit schwelt schon seit mehr als 120 Jahren. Doch nun kündigte das Verfassungsgericht in Delhi an, das maßgebende und abschließende Wort zur Causa Ayodhya zu sprechen. Stark vereinfacht gesagt musste die oberste Justiz Indiens darüber richten, wer künftig wo beten und wo bauen darf.

Kein Ort in Indien ist religiös und politisch so stark aufgeladen wie Ayodhya, keiner hat eine so große Sprengkraft für den inneren Frieden Indiens. Wie unter einem Brennglas zeigen sich dort die Bruchlinien der multikulturellen Gesellschaft. Umso größer war am Wochenende die Nervosität, als die Nation gebannt darauf wartete, was die Richter zu sagen hatten. Zehntausende Soldaten und Polizisten waren aufmarschiert, um mögliche Unruhen im Land zu verhindern.

Zehntausende Hindus zertrümmerten in Ayodhya einst eine Moschee

Die Richterbank unter ihrem Vorsitzenden Ranjan Gogoi hat nun ein Urteil gesprochen, das die Hindus begünstigt. Gewaltausbrüche provozierte die Entscheidung zunächst nicht. Für die Hindus ist nun der Weg frei, einen Tempel an jener Stelle zu errichten, wo nach verbreitetem Glauben die Geburtsstätte des Gottes Ram liegt. Den Muslimen soll laut Gericht ein anderes Stück Land zum Ausgleich zugesprochen werden, damit sie dort eine neue Moschee bauen können.

Ayodhya ist ein Ort von großer Symbolik, hier erlebte der indische Säkularismus eine seiner finstersten Stunden. Die Bilder vom Dezember 1992 sind noch nicht vergessen, sie gingen um die ganze Welt. Zehntausende fanatische Hindus stürmten damals in Ayodhya die Babri-Moschee aus dem 16. Jahrhundert, der Mob zertrümmerte in wenigen Stunden die gesamte muslimische Gebetsstätte, auf die Attacke folgten vielerorts blutige Unruhen, 2000 Menschen starben in dem Chaos.

Es war der Sündenfall, vor dem sich die gemäßigten politischen Kräfte in Indien immer gefürchtet hatten. Der Triumph der Radikalen setzte ein bedrohliches Zeichen. Strafrechtliche Verfahren gegen die mutmaßlichen Täter von 1992 sind teils versandet, teils noch immer nicht abgeschlossen. Doch zumindest hat die oberste Justiz nun, nach langen Verzögerungen, den Streit um das Land entschieden. Die Richter folgten dabei der Argumentation, dass die Moschee aus dem 16. Jahrhundert auf Resten eines älteren, "nicht-islamischen" Bauwerks gebaut worden war, es soll sich demnach um eine hinduistische Tempelanlage gehandelt haben. Nicht alle Experten waren in den vergangenen Jahren der Sichtweise gefolgt, die von der staatlichen Archäologie- und Denkmalschutzbehörde gestützt wird. Kritiker sprachen immer wieder von mangelnder Transparenz bei den Untersuchungen in Ayodhya. Die Richter hielten die Hinweise für ausreichend, um zugunsten der Hindus zu entscheiden und den rivalisierenden Anspruch einer muslimischen Klägergruppe abzuweisen.

Eine breite Hindumehrheit in Indien begrüßt das Urteil zu Ayodhya, sie hoffen, dass der Streit nun damit erledigt ist. Muslimische Vertreter machten klar, dass sie die Entscheidung der obersten Justiz respektieren werden, obgleich einzelne Stimmen auch Kritik an der Entscheidung übten. Allerdings fiel sie sehr verhalten aus. Zu beobachten ist in Indien seit einiger Zeit, dass die religiösen Minderheiten nicht mehr so freimütig sprechen, seitdem ein hindu-nationalistisches Kabinett in Delhi an der Macht ist. Kritiker fühlen sich durch eine zunehmend autoritär agierende Regierung in Delhi und deren Anhänger eingeschüchtert.

Aus der muslimischen Gemeinde heißt es, man wolle nicht gegen das Urteil aufbegehren

Das Angebot, ein anderes Stück Land zu nutzen, um eine Moschee zu bauen, wurde unter Muslimen ohne Begeisterung aufgenommen. In einigen Tagen will die zuständige Vereinigung entscheiden, ob sie das alternative Grundstück annehmen wollen. Ihr Vorsitzender Zufar Farooqui erklärte, es sähe nicht gut aus, wenn sie gegen ein Urteil des Obersten Indischen Gerichts aufbegehrten, er plädiert dafür, sich mit den Verhältnissen abzufinden.

Wer Ayodhya in den vergangenen Jahren besuchte, erlebte dort eine Hindu-Gemeinde, die es kaum erwarten konnte, endlich mit dem Bau des ersehnten Ram-Tempels zu beginnen - genau dort, wo 1992 die alte Moschee von Hindu-Fanatikern zertrümmert wurden. Steinmetze arbeiten schon seit Jahren an den Teilen für einen neuen Tempel, viele zugehauene Blöcke lagern bereits, sauber nummeriert, in einem staubigen Bauhof in Ayodhya. Gleichwohl soll es noch fünf Jahre dauern, bis ein solcher Tempel fertig sein wird, schätzte einer der Bauleiter, Annubhai Sompura, im Gespräch mit der Times of India.

© SZ vom 11.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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