Indien:Revolte der Richter

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Als Präsident des Obersten Gerichts ist Dipak Misra Herr der Dienstpläne – und bestimmt somit, welcher Kollege welchen Fall bearbeitet. Die anderen Richter werfen dem Premier Narendra Modi nahestehenden „Chief Justice“ vor, politisch heikle Fälle absichtlich unerfahrenen Richtern zuzuteilen. (Foto: imago/Hindustan Times)

In Indiens Verfassungsgericht rumort es, einige Juristen warnen bereits vor einem Verfall der Demokratie. Bekommt nun auch die Justiz den Machthunger der regierenden Hindunationalisten zu spüren?

Von Arne Perras, Singapur

Als die vier Richter zur indischen Nation sprachen, verkündeten sie kein Urteil. Jedenfalls keines im juristischen Sinne. Sie traten vor eine Schar von Journalisten und taten, was es so noch niemals in der Geschichte des Obersten Gerichts in Indien gegeben hatte: Die vier Herren hielten eine Pressekonferenz ab. Normalerweise wirken die obersten Richter entrückt, sie konzentrieren sich ganz auf ihre Arbeit am Gericht, sie laden keine Journalisten ein, um Erklärungen abzugeben. Schon gar keine, die Schocks auslösen.

Doch am Freitag, dem 12. Januar, war alles anders. Die Gruppe oberster Richter erweckte den Eindruck, als sei ihnen nichts anderes übrig geblieben, um auf ihre Sorgen aufmerksam zu machen. Im Namen aller vier sagte Jasti Chelameswar über die Zustände am Obersten Gericht: "Wenn diese Institution nicht bewahrt wird und sie ihre Balance nicht behält, dann wird Indiens Demokratie nicht überleben."

Starke Worte waren das, plötzlich waren alle hellwach. Stand es schon so schlimm um ihren Staat und die Justiz? Was hatte die beispiellose Richterrevolte zu bedeuten? Bald schon zeichnete sich ab, dass diese Affäre nicht auf die Justiz beschränkt bleiben würde, dass sie weit in die Politik ausstrahlt und letztlich an das Machtgefüge im indischen Staat rührt, der seit 2014 von Premier Narendra Modi regiert wird.

In politischen Kreisen wird die Richterrevolte längst als Symptom einer größeren Krise gewertet, die das Verhältnis zwischen Judikative und Exekutive berührt. Gerichtspräsident Dipak Misra wird eine gewisse Nähe zu Modi nachgesagt, nun befeuert die Richterrevolte Befürchtungen, dass die Eigenständigkeit der Justiz auf dem Spiel stehen könnte. Ginge eine gesunde Distanz zwischen dem Obersten Gericht und den Regierenden verloren, wäre dies bedrohlich für die Gewaltenteilung in der größten Demokratie der Welt.

Die vier Richter attackierten ihren Vorsitzenden, Gerichtspräsident Misra, der ihre Bedenken angeblich nicht hören wollte. Misra war im August als dienstältester Richter ins höchste Amt aufgerückt. Seither löst er immer wieder Irritationen aus. Vordergründig dreht sich der Streit um Dienstpläne, kaum ein Thema von nationaler Tragweite. Wären damit nicht wichtige Entscheidungen verbunden, welche Richter welche Fälle zu bearbeiten haben. Der Gerichtspräsident gilt als "Primus inter Pares". Doch als "Erster unter Gleichen" leitet er auch die Verwaltung für 26 Richter. Und so kommt ihm eine Schlüsselrolle bei der Verteilung der Verfahren zu.

Nun aber kritisieren ausgerechnet seine vier ranghöchsten Kollegen geschlossen, dass der "Chief Justice" bewährte Konventionen missachte. Ihnen ist aufgefallen, dass bestimmte Richter zuletzt nicht mehr zum Zuge kamen, während besonders wichtige Fälle an jüngere Kollegen mit wenig Erfahrung vergeben wurden. Ohne erkennbare Begründung, wie die rebellierenden Richter klagen, sie vermissten ein "ordentliches Vorgehen".

Wenn die vier dienstältesten Richter öffentlich ihre Unzufriedenheit mit dem Gerichtspräsidenten bekunden, so kann es sich kaum um Petitessen handeln. Der Vorgang werfe "Verfassungsfragen auf", sagt der Rechtsexperte Upendra Baxi, der in Großbritannien an der University of Warwick lehrt. Dies gilt umso mehr, als die Justizrevolte auch mit der Untersuchung eines mysteriösen Todesfalls zu tun hat, wie einer der rebellierenden Richter, Rajan Gogoi, bestätigte. Es geht um die letzten Tage im Leben eines Untersuchungsrichters.

Brijmohan Loya arbeitete in der Strafverfolgungsbehörde CBI und war in dieser Funktion 2014 auch mit der Tötung eines Schwerkriminellen in Gujarat befasst. Brisant wurde der Fall, weil ein führender BJP-Politiker, Amit Shah, als mutmaßlicher Anstifter zur Tat auf dem Radar der Ermittler erschienen war. Shah war in früheren Jahren Innenminister in Gujarat und ist im Laufe der Jahre zum mächtigsten Mann an der Seite des Premiers Narendra Modi aufgestiegen, er gilt als wichtigster Wahlkampf-Stratege in dessen Partei Baratiya Janata Party (BJP). Richter Loya, der den Fall damals zu prüfen hatte und Shah in Untersuchungshaft nehmen wollte, starb überraschend am 1. Dezember 2014, angeblich an einem Herzinfarkt. Die Prüfung der Anschuldigungen gegen Shah wurde daraufhin einem anderen Richter übertragen, der den BJP-Mann freisprach.

Wurde ein Richter ermordet, um die Verwicklung eines Politikers in Verbrechen zu vertuschen?

Seit Kurzem liegt der Fall beim Obersten Gericht, zwei Petitionen wurden gestellt, um zu klären, ob Loya ermordet wurde. Die vier rebellierenden Richter wundern sich nun, warum die erfahrensten Kollegen im Fall Loya übergangen wurden. Der Gerichtspräsident hat einen jüngeren Kollegen mit dem Fall betraut, über dessen Eignung bereits in den Medien diskutiert wird, nachdem ihm enge Verbindungen mit der BJP nachgesagt wurden.

Seit dem Siegeszug der konservativen BJP beobachten liberale Kräfte in Indien, dass der Pluralismus unter dem Einfluss hindu-nationalistischer Kreise zunehmend schwindet. Kritiker klagen, das BJP-Lager strebe nach immer mehr Macht, um Gesellschaft und Kultur nach ihren Vorstellungen zu formen. Bekommt nun auch die Justiz den zunehmenden Machthunger der Partei zu spüren? Und wie anfällig ist das Oberste Gericht gegenüber politischer Einflussnahme? Indien sucht nach Antworten, nachdem die Richterrevolte die inneren Zerwürfnisse am Obersten Gericht in die Öffentlichkeit katapultiert hat.

Gerichtspräsident Misra äußert sich öffentlich zu den Vorwürfen nicht. Der politische Schlagabtausch ließ unterdessen nicht lange auf sich warten. Nanda Kumar vom rechtsnationalen Freiwilligenbund RSS - Speerspitze der hindu-nationalistischen Bewegung - nannte die Revolte der Richter "unverzeihlich", er warf ihnen "politische Verschwörung" vor. Bei Wahlen mobilisiert der RSS seine Basis für die regierende BJP, seine Fußtruppen sind wichtig, um die Hindu-Massen hinter der Partei zu scharen. Oppositionelle lobten den Aufstand der Richter als mutigen Schritt. Sie forderten, der Tod des Richters Loya müsse lückenlos aufgeklärt werden.

© SZ vom 19.01.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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