Indien:Klar ist nur die Unklarheit

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Es gab keine Verletzung der Grenze zu China, sagt Indiens Premier Narendra Modi und irritiert damit viele. (Foto: AP)

In der Krise mit China verwirrt Premierminister Narendra Modi seine Landsleute mit der Aussage, es habe gar keine Grenzverletzungen gegeben.

Von Arne Perras, Singapur

Indiens Premierminister wollte Klarheit schaffen, doch geschehen ist das Gegenteil. Seitdem Narendra Modi vergangenen Freitag versuchte, den indischen Parteien die Lage an der Grenze zu China zu erklären, herrscht Verwirrung im Land. Denn Modi erklärte an jenem Tag, dass es keine Grenzverletzungen gegeben habe und dass kein indischer Posten von irgendjemandem besetzt worden sei. Er bezog sich auf die jüngsten Zusammenstöße zwischen indischen und chinesischen Soldaten im Himalaja, bei denen 20 Inder und mutmaßlich auch einige Chinesen getötet wurden.

Frühere Erklärungen des indischen Militärs und des Außenministeriums in Delhi hatten noch ein anderes Bild gezeichnet als Modi. China erschien demnach als der Aggressor, der angeblich auf indisches Territorium vorgedrungen war. Wer nun den Premier hörte, fragte sich, was denn als indische Position gelten sollte. Und warum starben 20 indische Soldaten, wenn gar niemand die Grenze überschritten hatte, den es zurückzuschlagen galt?

Die Verwirrung darüber zeigte dieser Tage ein Cartoon: Die getöteten indischen Soldaten sitzen mit ihren Helmen auf einer Wolke im Himmel und schauen verdutzt in einen Fernseher, der den Satz verbreitet: "There has been no Intrusion!". Kein Eindringen auf indisches Gebiet. Auch jüngste Meldungen indischer Medien, dass sich beide Seiten angeblich auf einen Rückzug ihrer Truppen von mehreren umstrittenen Punkten im Gebirge verständigt hätten, änderten nichts an der Konfusion. Aus dem Außenministerium in Peking hieß es lediglich, beide Seiten hätten sich auf Maßnahmen geeignet, um die Spannungen an der Grenze zu verringern. Sie würden ihren Dialog auf politischen und militärischen Kanälen fortsetzen.

Es gibt nach wie vor weit mehr Fragen als Antworten. Und selten seit seiner Wahl im Jahr 2014 wirkte Regierungschef Modi derart zurückhaltend wie in den Tagen der großen Krise mit Peking - ein Indiz dafür, dass die Eskalation die indische Regierung doch überrumpelt hat und sie nun ratlos erscheint. Indien trauert um seine Soldaten, China schweigt hartnäckig zur Zahl seiner Opfer. Doch beiden Seiten ist klar, dass diese Konfrontation vieles verändert. In Kolumnen indischer Medien ist schon von einem Wendepunkt die Rede. Wie sich Indien jetzt positioniere, werde die Zukunft der beiden asiatischen Milliardenvölker maßgeblich mitbestimmen, glauben viele Publizisten.

Mäßigende Stimmen mochten zunächst erleichtert darüber sein, dass Modi keine martialischen und nationalistischen Parolen anstimmte; er ist ein Mann, der darin durchaus Übung hat. Mit Tiraden gegen den Erzfeind Pakistan gewann er die Wahlen 2016. Die Kraftmeierei hilft, Anhänger in der Hindu-Mehrheit um sich zu scharen, doch wenn sich nun auch noch China als Feindbild verfestigt, so ist dies weitaus bedrohlicher, im Falle eines militärischen Konflikts wird bereits offen über die künftige Gefahr eines möglichen Zwei-Fronten-Kriegs diskutiert.

"Wasser auf die Mühlen der chinesischen Propaganda"

In diese Stimmung nun platzten Modis Worte, dass es keine Grenzverletzungen gebe, was kaum geeignet erscheint, das weitere diplomatische Vorgehen Indiens gegenüber Peking zu erleichtern. Brahma Challeney, Experte für strategische Studien, nannte Modis Worte "Wasser auf die Mühlen der chinesischen Propaganda". Peking werde die Sätze des Premiers dafür nutzen, das eigene Vordringen zu rechtfertigen und um zu behaupten, dass indische Soldaten widerrechtlich auf chinesisches Territorium vorgedrungen seien. Nirupama Rao, eine ehemalige Außenministerin Indiens und frühere Botschafterin in Peking, sprach davon, dass Modi eine "realistische Sicht" vorgebracht habe, die sich aus der "Asymmetrie der Macht gegenüber China" ergebe. Das war ein verklausuliertes Eingeständnis, dass Indien mit China eben nicht mithalten könne. Dies offen einzugestehen, ist für die Regierung allerdings heikel, weil Modi immer vollmundig mit dem Anspruch angetreten ist, Indien in ein Kraftwerk Südasiens zu verwandeln. BJP-Politiker protzten häufig damit, dass man China wirtschaftlich bald überholen werde - angesichts der lahmenden Wirtschaft ist dies gegenwärtig nur ein ferner Traum.

Außerdem hat Innenminister Amit Shah den indischen Anspruch auf ganz Kaschmir zuletzt stark betont und dabei explizit auch Aksai Chin einbezogen, jenes Territorium, das von China kontrolliert wird. Solche Töne empfindet Peking als Provokation. Sie haben Chinas Vorstöße im Himalaja womöglich beschleunigt, um die eigenen Truppen in eine gute Position zu bringen. Über den genauen Verlauf der 3440 Kilometer lange Grenze herrscht zwischen den beiden asiatischen Atommächten keine Einigkeit, an vielen Stellen ist nicht einmal klar, wo die "Line of Actual Control" (LAC) verläuft, eine Linie, die den Status Quo markieren soll, der vor der Konfrontation im Juni geherrscht haben soll.

Was der Premier über den blutigen Zusammenstoß zu Protokoll gab, dürfte lange nachwirken im Verhältnis zwischen Indien und China. Sein Büro sah sich genötigt, nach all der Verwirrung eine Klarstellung nachzuschieben, die allerdings mehr eine Klage war, dass Modis Sätze jetzt "für bösartige Interpretationen" missbraucht würden. Wer die Regierung kritisiert, läuft stets Gefahr, von Politikern der regierenden Partei BJP als anti-national abgestempelt zu werden.

Gleichzeitig mehren sich Stimmen, die fordern, dass Indien seine China-Politik nach der Konfrontation grundlegend überdenken müsse. Reflexartig wurden Rufe nach einem Boykott chinesischer Produkte laut, um "China eine Lektion zu erteilen", doch ein genauerer Blick auf die Wirtschaftsbeziehungen macht deutlich, dass sich Indien mit einer solchen Blockade selbst mehr schaden dürfte als China, wie der Indian Express analysiert. So würde der Boykott billiger chinesischer Produkte vor allem die Ärmsten in Indien treffen, die sich teurere Ware, etwa aus Japan, nicht leisten können. Außerdem kämen auch indische Geschäftsleute unter Druck, wenn Lieferketten gekappt würden - und das in Zeiten, da die indische Ökonomie angesichts der Corona-Krise ohnehin schon am Boden liegt.

© SZ vom 24.06.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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