Indien:Fremder Freund

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Der Riese hat seine Probleme. Doch er ist eine stabile Großmacht. Deutschland sollte den Besuch von Premier Modi nutzen, ihr näher zu kommen.

Von Arne Perras

Gebannt blickt Europa auf das Wüten der Welt. Es scheint immer näher zu rücken. Im Osten toben die Gefechte um die Ukraine, weiter südlich reiht sich ein Konflikt an den anderen: Syrien, Irak, Jemen. Aber es gibt noch eine andere Welt. Länder, die sich weitgehend friedlich entwickeln, Staaten, die ihre Probleme meistern und nicht im Bürgerkrieg versinken. So ein Land ist Indien, wo bald mehr Menschen leben werden als in China. Der Riese in Südasien macht Mut in Zeiten grassierenden Staatszerfalls. Den Deutschen ist Indien ein fremder Freund.

Am Sonntag kommt Premier Narendra Modi zu Besuch. Gemeinsam mit der Kanzlerin wird er die Hannover Messe eröffnen und Gespräche in der Hauptstadt führen. Gleich aus zwei Gründen ist dieser Mann einer der wichtigsten Staatsgäste des Jahres. Der Subkontinent lockt mit neuen Chancen für die Wirtschaft, die Exportnation Deutschland kann und darf sie nicht ignorieren. Aber noch wichtiger ist, dass Indien als stabile Großmacht immer mehr politisches Gewicht bekommt.

Deutschland sollte den Besuch zum Anlass nehmen, sich diesem stabilen, mächtigen und demokratischen Partner zuzuwenden

Ein säkulares demokratisches System bindet den bunten Vielvölkerstaat zusammen und sichert den inneren Frieden. Das ist alles andere als selbstverständlich in einer Zeit, da Gewalt und religiöser Extremismus die Fundamente vieler Staaten zerfressen. Indiens Bedeutung für den Weltfrieden kann deshalb gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Delhi ist ein starker Anker in Zeiten, da ganze Regionen ins Chaos abdriften.

Der Mann, der diese Stabilität hüten muss, heißt Modi. Er hat keine leichte Aufgabe in Zeiten, da sich Indiens Gesellschaft wandelt. Der Premier hat Entwicklung für alle versprochen. Mit dieser Vision ist er vor zehn Monaten angetreten, daran werden sie ihn messen. Im Wahlkampf gab Modi den Magier, er hat Bilder einer blühenden Zukunft gezeichnet, die Leute folgten ihm, weil er als Ministerpräsident des Bundesstaates Gujarat gezeigt hatte, wie man Wachstum anschiebt. Doch Indien ist groß. Und auch wenn es sich viele anders wünschen, so hat das Land doch eher die Wendigkeit eines Elefanten als die eines Tigers. Aufschwung im Rekordtempo wird es deshalb nicht geben.

Ob die Inder ihrem Premier noch Zeit geben, um das Land ökonomisch voranzubringen? Man weiß es nicht. Es ist ebenso möglich, dass sie sich bald voller Ungeduld abwenden, weil der Aufschwung nicht so schnell kommt wie ersehnt. Es wird in jedem Fall dauern, um Indien in den großen neuen Motor der Weltwirtschaft zu verwandeln. Vieles von dem, was Modi bislang angepackt hat, ist gut. Er will die Bürokratie effizienter machen, aber sie ist ein Monstrum, das sich nicht so leicht bändigen lässt. Ebenso mühsam ist es, die Korruption einzudämmen.

Modi kann nur erfolgreich sein, wenn eine ganze Nation mitzieht. Das ist kompliziert, wenn die Interessen oben und unten auseinanderdriften. Ein Beispiel ist die zähe Reform des Landerwerbs. Die Unternehmer sehen es gern, wenn sie schnell Grundstücke für Fabriken kaufen können. Die Bauern aber befürchten, dass sie die Verlierer solcher Gesetze sein werden.

Wer durch Indien reist, hat manchmal das Gefühl, in einer Zeitmaschine zu sitzen. Großgrundbesitzer und Kleinbauern leben noch in einer feudal anmutenden Welt. Gleichzeitig studieren Superhirne in den boomenden Städten Computerwissenschaften, Biotechnik und Nuklearphysik. Indien oszilliert zwischen Mittealter und Marsmission. Man darf sich täglich wundern, wie das alles zusammenspielt.

Indische Verhältnisse sind verwirrend, manchmal auch verstörend. Brutale Vergewaltigungsfälle haben in aller Welt Entsetzen ausgelöst. Doch es sind die Inder selbst, die in immer größerer Zahl und immer lauter die Gewalt gegen Frauen anprangern. Viele arbeiten daran, absurde Tabus zu brechen und Ungerechtigkeiten zu beseitigen. Lebendige Medien und viele Aktivisten verleihen diesem Wandel Schub. Das ist auch ein Verdienst der indischen Demokratie, die Debatten ermöglicht, Verbrechen bekannt macht und Polizei und Justiz zum Handeln treibt. Doch auch an dieser Front wird der Wandel langsam kommen. Erst wenn Eltern ihre Kinder in einem neuen Geist erziehen, wenn Mädchen nicht mehr als Kinder zweiter Klasse aufwachsen, wird Indien sein patriarchalisches Erbe überwinden.

Indien kann den sozialen Wandel leichter bewältigen, wenn der Staat für seine jungen Massen Arbeit und Aufstiegschancen schafft. Modi will das. Kann es gelingen? Weil das Leben auf dem Land und in der Stadt immer weiter auseinanderklafft, fällt es Politikern schwer, die richtigen Reformen für alle anzustoßen. Schon jetzt ist das soziale Gefälle größer als in jedem anderen Land. Der Koloss hat aber nur dann Chancen, stabil zu bleiben, wenn der Aufschwung allen nützt. Die Regierenden müssen Unternehmern das Leben erleichtern, ohne darüber die armen Massen zu vergessen. Die Balance zu finden, ist schwer. Schon haben viele den Eindruck, dass Modi eher dem Big Business den Weg ebnen wird als den Armen. Der Ruf, Großunternehmer zu bevorzugen, ist gefährlich. Denn das dürften die unteren Wählerschichten als Verrat auslegen.

Und noch eine Gefahr droht Modi, sie lauert im eigenen ideologischen Lager: Er ist unter Hindu-Nationalisten groß geworden. Religiöse Eiferer betrachten seinen Wahlsieg als Freibrief, um eine Dominanz der Hindus auf Kosten der Minderheiten voranzutreiben. Es ist ein gutes Zeichen, dass der Premier da klare Worte fand. Er versichert, dass er das Zündeln mit religiösen Gefühlen nicht duldet. Diese Linie muss er hart vertreten, weil er sonst keine Chance hat, sein Reformwerk zu verwirklichen. Hass und Missgunst gefährden den Aufschwung. Und sie schrecken Investoren ab, die Indien dringend braucht.

Berlin hat guten Grund, einen engeren Schulterschluss mit Delhi zu suchen. In einer Welt zerfallender Staaten müssen alle Länder zusammenrücken, die den zersetzenden Kräften des Extremismus entgegentreten. Und selbst wenn die Erwartungen an Modis Aufbruch etwas zu hoch geschraubt sein sollten, so wird Indiens Gewicht dennoch weiterwachsen. Rechtsstaaten können froh sein, wenn der bald größte Staat der Welt sein demokratisches Erbe für die Zukunft sichert.

© SZ vom 11.04.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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