Indien:Ein Subkontinent auf Jobsuche

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Indien soll einmal China als "Werkbank der Welt" ablösen. Im südindischen Chennai produziert die Firma Royal Enfield Motorräder. (Foto: Dhiraj Singh/Bloomberg)

Jedes Jahr drängen Millionen junge Leute auf den Arbeitsmarkt. Der Premier hat versprochen, die Wirtschaft anzukurbeln. Doch seine Reformen kommen nicht voran.

Von Arne Perras, Delhi/Singapur

Ans Guinnessbuch der Rekorde hat Prabhat Mittal noch gar nicht gedacht. Der Inder muss erst mal verdauen, was auf ihn eingehagelt ist. Mittal ist ein leitender Beamter im Bundesstaat Uttar Pradesh, wo kürzlich 368 Jobs ausgeschrieben wurden. In den Amtstuben suchen sie nach Laufburschen, die Akten von einem Büro ins nächste tragen. Traumjobs sehen anders aus. Dennoch sind online 2,3 Millionen Bewerbungen eingegangen.

Wer Mittal ans Telefon bekommt, kann hören, wie ihn das umtreibt. 2,3 Millionen! Er nennt die Zahl nicht einmal, sondern dreimal. Sie scheint ihn zu verfolgen. Und nicht nur ihn. Der Fall hat es kürzlich auf die ersten Seiten der Zeitungen geschafft. Jahr für Jahr drängen bis zu zwölf Millionen junge Leute auf den Arbeitsmarkt, das muss eine Gesellschaft erst einmal verkraften. Noch sprechen Inder oft von einer Dividende der Jugend, die das Land stark mache. Aber die Massen müssen auch in Lohn und Brot gebracht werden, um das Bruttosozialprodukt zu steigern.

Entsprechend hat das Milliardenvolk vor 16 Monaten gewählt. Gesucht war eine Regierung, die Arbeit schafft. Bekommen hat den Regierungsauftrag Narendra Modi von der hindu-nationalistischen Partei BJP. Er hat die Vision vom neuen starken Indien in den Himmel gemalt. Mit glänzender Rhetorik schaffte es der Mann, die Massen mitzureißen. Alle hofften auf Modi, den Macher. Und jetzt? Seinen Elan hat der Premier nicht verloren - nur dass er dafür nicht mehr so häufig gepriesen wird wie anfangs. Das liegt daran, dass sich der 65-Jährige mit seinen Reformplänen festgefahren hat, seitdem er das Milliardenvolk regiert. Drei große Pakete hat Modi angekündigt: einheitliche Steuern, ein unternehmerfreundliches Landerwerbsgesetz und Änderungen im Arbeitsrecht. Investoren konnten es kaum erwarten, dass der neue Mann die Hürden für das Wachstum aus dem Weg stemmte. Einen Herkules wollten sie in ihm sehen. Doch nun erleben sie einen Premier, der doch nicht so vorankommt, wie er gerne möchte.

Was aber bremst ihn aus? Zunächst fällt auf, dass der indische Traum von einem besseren Leben doch von Schicht zu Schicht sehr unterschiedlich ausfällt. Da sind zum Beispiel die Farmer, deren Leben am Ackerland hängt, und die immer noch eine Mehrheit im Land bilden. Sie können sich nicht so recht vorstellen, wie sie davon profitieren sollen, dass neue Industriebetriebe entstehen. Sie haben Angst, ihr Land zu verlieren. Andererseits trifft man jetzt auch überall junge Ingenieure, die es nicht erwarten können, in einen Betrieb einzusteigen und Karriere zu machen.

Modi hat in unteren Schichten Kredit verspielt, als er ein industriefreundliches Landgesetz durchboxen wollte. Dass er als Verbündeter des Big Business wahrgenommen wurde, schadete seiner Popularität. Das hat die Opposition genutzt, sie blockierte Modis Pläne im Oberhaus, wo der Premier keine Mehrheit besitzt. Sind seine Gegner also schuld am Stillstand? Modis Partei BJP wird nicht müde, das so darzustellen. Aber man kann es auch anders betrachten. Hartosh Singh Bal, Chefredakteur des Magazins Caravan und prominenter Kritiker Modis, sagt, dass es der Premier versäumt hat, auf Gegner zuzugehen, Kompromisse einzugehen, Bündnisse zu schmieden. "Er wusste um die Mehrheitsverhältnisse im Oberhaus, hat aber dennoch versucht, seine Pläne von oben herab durchzudrücken", sagt Bal.

Bei Merkels Besuch geht es auch um die Rolle Deutschlands beim Aufbau der indischen Industrie

Bleibt die Frage nach den Jobs: Wo sollen sie alle herkommen? Modis Wirtschaftsexperten rechnen vor, dass Arbeitsplätze in großer Zahl doch nur durch den Aufbau der Industrie geschaffen werden könnten. Diesem Ziel hat sich die Kampagne "Make in India" verschrieben, für die der Premier nach Investoren sucht, auch in Deutschland. Modi möchte Indien zur neuen Werkbank der Welt machen und China in dieser Rolle ablösen. Dass die Wirtschaft in Fernost derzeit zu kämpfen hat, sehen manche von Modis Strategen weniger als Gefahr denn als Chance, Peking zu überholen. Beim Besuch von Kanzlerin Angela Merkel wird es an diesem Montag auch darum gehen, welche Rolle Deutschland beim Aufbau des Industriestandortes Indien spielt. Einerseits passt das zu Modis Agenda, ist jetzt aber auch ein Balanceakt. Denn der Premier will in wenigen Wochen wichtige Regionalwahlen in Bihar gewinnen. Da ist es kaum nützlich, in die Nähe des Big Business gerückt zu werden.

Modi spricht gerne von Entwicklung, was für ihn den Vorteil hat, dass er darunter auch industrienahe Themen einsortieren kann, ohne dass es sofort negativ auffällt. Gut vermittelbar sind Pläne, die berufliche Bildung in Indien mit deutscher Hilfe zu verbessern. Denn darin hat das Land einen riesigen Aufholbedarf. Und es gilt unter anderem, Projekte für Solarenergie zu besiegeln. Modi betont, dass er erneuerbare Energien fördern möchte. Und Delhi hat nun auch - nach langem Zögern - seine Klimaziele erklärt. Bis 2030 wollen die Inder den Ausstoß von Treibhausgasen um 33 bis 35 Prozent reduzieren. Allerdings sind damit keine absoluten Grenzen festgelegt, reduziert wird die Emissionsintensität, die den Ausstoß klimaschädigender Gase im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung misst. Das gilt schon als Schritt voran, wenn man berücksichtigt, was der Analyst Bal zu den politischen Zwängen sagt. "Für jede indische Regierung ist es unglaublich schwer, sich auf Grenzen einzulassen, die potenziell das Wachstum beschneiden und damit auch die Schaffung neuer Jobs."

Ein Gedanke, der zurückführt zum Beamten Mittal in Uttar Pradesh. Er grübelt noch, wie man mit der Flut von Bewerbungen für den Laufburschen-Job umgehen soll. Kandidaten müssen die Grundschule absolviert haben und Fahrradfahren können - das macht die Auswahl nicht leichter. Alles zu sichten und Gespräche zu führen würde etwa vier Jahre dauern. "Vollkommen unmöglich", sagt Mittal, weshalb sie das Problem nun an die Staatsspitze weitergereicht haben. Sollen die das lösen.

Unter den 2,3 Millionen Bewerbern waren übrigens auch 25 000 Inder, die eine Hochschule abgeschlossen haben.

© SZ vom 05.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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