Die EU-Kommission will Mitgliedstaaten zwingen, "digitale grüne Zertifikate" für Corona-bezogene Impfungen, Tests und Genesungen herauszugeben. Außerdem müssen die Regierungen ihre nationalen Systeme so gestalten, dass die Zertifikate überall in der EU funktionieren und grenzüberschreitende Abfragen problemlos möglich sind. Die digitalen Dokumente sollen von Sommer an das Reisen innerhalb der EU erleichtern, können aber auch genutzt werden, um zum Beispiel an der Kinokasse schnell eine Covid-Impfung nachzuweisen. Am Mittwochmittag stellte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen den entsprechenden Verordnungsvorschlag in Brüssel vor, zusammen mit dem zuständigen Justizkommissar Didier Reynders.
In einem Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung und anderen internationalen Medien betonte Reynders, dass es sich nicht um einen Impfpass handele: "Es geht nicht nur um Impfungen. Diese Botschaft würde ich am liebsten an die Fassaden der EU-Gebäude in Brüssel plakatieren", sagt der frühere belgische Außenminister. "Es ist unmöglich, Grundrechte wie die Reisefreiheit an den Impfstatus zu koppeln." Es sei ein Hauptanliegen der Kommission, Diskriminierung Nicht-Geimpfter zu vermeiden. Deswegen könne das Zertifikat nicht nur Impfungen dokumentieren, sondern auch PCR- und Antigen-Schnelltests sowie Atteste, dass jemand eine Corona-Infektion überstanden und nun Antikörper im Blut hat.
Länder können selbst über die Vorteile entscheiden
Welche Vorteile Mitgliedstaaten mit dem Besitz eines Zertifikats verknüpfen, bleibt ihnen überlassen. Geimpften könnten zum Beispiel bei Reisen Test- und Quarantänepflichten erlassen werden. Länder wie Griechenland und Österreich, deren Wirtschaft stark vom Tourismus abhängt, haben darauf gedrängt, schnell solche europäischen Impfnachweise einzuführen und mit ihnen Reisen zu erleichtern.
Auf der anderen Seite warnen die Regierungen von Deutschland und Frankreich, es sei heikel, Geimpften Vorteile einzuräumen, solange deren Anteil an der Bevölkerung so klein ist. Dies könne als Diskriminierung oder Impfpflicht durch die Hintertür aufgefasst werden. Reynders weist zudem darauf hin, es sei noch nicht völlig klar, wie lange der Schutz der unterschiedlichen Vakzine anhalte und ob Geimpfte das Virus wirklich nicht weitergeben könnten. Doch bis zum Sommer werde es mehr Erkenntnisse geben.
Schätzen Regierungen das Risiko einer Verbreitung unterschiedlich hoch ein, könnten die Regeln in den einzelnen Ländern voneinander abweichen. In dem einen EU-Staat müssten Zertifikate-Inhaber dann bei der Einreise vielleicht trotzdem einen Schnelltest machen, in dem anderen nicht. Hätte der Verordnungsvorschlag eine Vereinheitlichung erzwingen wollen, hätte eine Blockade durch die Mitgliedstaaten gedroht, sagt Reynders. "Aber wenn wir im Sommer sehen, dass die Regelungen in Europa fragmentiert sind, und wenn die Mitgliedstaaten den Wunsch nach einer Harmonisierung äußern, sind wir als Kommission offen dafür, eine Empfehlung herauszugeben."
Vakzine aus China und Russland werden schlechtergestellt
Heikel ist auch die Frage, was für Corona-Impfstoffe aus China und Russland gelten soll. Denen fehlt bislang die Zulassung der Europäischen Arzneimittel-Agentur EMA, trotzdem werden sie etwa in Ungarn eingesetzt. Dem Kommissionsvorschlag zufolge sind Mitgliedstaaten verpflichtet, Impfzertifikate aus dem Ausland anzuerkennen, wenn Vakzine mit EMA-Lizenz verwendet wurden. Fehlt die Lizenz, können die Zertifikate akzeptiert werden, müssen es aber nicht.
Die Verordnung weist die Regierungen an, nationale Systeme für digitale Impf-, Test- und Genesungszertifikate aufzubauen. Das machen einige Staaten ohnehin schon; in Deutschland erhielten IBM und das Kölner Start-up Ubirch kürzlich den Zuschlag dafür. Die Kommission stellt Ländern, die sich schwertun, Finanzhilfe zur Verfügung. Bürger würden dann beim Arzt oder im Impf- und Testzentrum kostenlos einen QR-Code erhalten, den sie ausdrucken oder auf ihrem Mobiltelefon speichern können.
Diesen Code können die Bürger dann an der Kinokasse, im Fitnessstudio, am Flughafen oder an der Hotelrezeption vorzeigen. Anhand des Codes können die Grenzbeamten oder Rezeptionisten prüfen, ob das Zertifikat echt ist. Die Kommission wird ein System programmieren, ein sogenanntes Gateway, das grenzüberschreitende Abfragen ermöglicht, sodass die Nachweise aller EU-Staaten überall funktionieren. Zertifikate von außerhalb der EU können unter gewissen Umständen ebenfalls miteinbezogen werden. Die Verordnung der Kommission regelt genau, welche Angaben die Nachweise enthalten müssen.
Reynders betont aber, dass niemand gezwungen werde, einen digitalen Nachweis zu nutzen. Bürger könnten weiter den gelben WHO-Impfpass oder Testbestätigungen auf Papier an der Hotelrezeption präsentieren - doch der QR-Code garantiere die Echtheit der Zertifikate und diene damit auch dem Kampf gegen gefälschte Testnachweise.
Staaten ignorierten oft Empfehlungen, klagt der Kommissar
Beim EU-Gipfel Ende Februar gelobten von der Leyen und die Mitgliedstaaten, dass der Aufbau der Systeme in gut drei Monaten zu schaffen sei - und damit pünktlich zum Start der Sommer-Reisesaison. Allerdings ist dies ein sehr ehrgeiziger Zeitplan. Ähnlich ambitioniert ist der Plan für die am Mittwoch vorgestellte Verordnung, die den rechtlichen Rahmen schafft. Das Europaparlament und der Ministerrat, das Entscheidungsgremium der Mitgliedstaaten, müssen zustimmen. Reynders hofft, bis Mai zu "positiven Ergebnissen" zu kommen. Für ein EU-Gesetz wäre das rasend schnell.
Dieses Gesetzgebungsverfahren hätte sich die Kommission sparen können, wenn sie statt einer bindenden Verordnung einfach eine unverbindliche Empfehlung herausgegeben hätte. Doch Reynders verweist auf schlechte Erfahrungen: So würden manche Mitgliedstaaten die EU-Empfehlungen, sich bei Corona-Reisebeschränkungen zu koordinieren, nicht richtig umsetzen. Außerdem gehe es bei zwei anderen EU-Digitalprojekten, bei denen bindende Vorgaben fehlen, kaum voran. So gelobten die Regierungen bereits im Oktober, ein einheitliches elektronisches Formular zu entwickeln, mit dem Reisende ihren Aufenthaltsort angeben - bislang ohne Ergebnis. Und die Covid-Warn-Apps der Mitgliedstaaten können sich anders als geplant auch nicht alle austauschen. Ende März soll das erst bei 21 nationalen Handyprogrammen möglich sein. Reynders Lehre: "Diesmal nutzen wir ein bindendes Instrument."