Protokoll:Wie die "Sea Watch" Flüchtlinge im Mittelmeer rettet

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Wenn ein Flüchtlingsboot gesichtet wird, versuchen die Helfer, sich vorsichtig zu nähern, um die traumatisierten Menschen nicht in Angst zu versetzen. (Foto: Sea Watch)

Eine private Initiative aus Brandenburg will mit dem ehemaligen Fischkutter "Sea-Watch" Flüchtlinge im Mittelmeer retten. Das ist schwieriger als gedacht. Ein Protokoll in Logbucheinträgen.

Protokoll von Thomas Hahn

Am Anfang war die Empörung. Im Herbst hörten Freunde aus Brandenburg in den Nachrichten von den Flüchtlingstragödien im Mittelmeer. Sie hörten, dass Europas Behörden einen eher sparsamen Kurs einschlugen, wenn es um die Hilfe für jene Menschen ging, die ihre Heimat wegen Krieg und Unterdrückung verlassen mussten. Sie wollten etwas tun. Im Dezember kaufte die Gruppe um den Kaufmann Harald Höppner einen alten Fischkutter aus Holland für 60 000 Euro vom Sparkonto, renovierte ihn für weitere 60 000 Euro und lancierte eine Hilfskampagne. Ende März fand die Schiffstaufe der Sea-Watch statt. Im Mai machte sie sich von Hamburg aus auf den Weg Richtung Mittelmeer. Seit knapp fünf Wochen ist sie da. Auszüge aus dem Bord-Bericht:

Freitag, 12. Juni

Lampedusa. Die Sea-Watch ist am Ort ihrer Bestimmung angekommen. Nach 3000 Meilen Überfahrt um den europäischen Kontinent herum. Es war geplant, das Basislager in Malta aufzuschlagen. Aber kurzfristig hat sich die Möglichkeit auf der italienischen Insel ergeben, die mitten im Mittelmeer zwischen Tunesien und Sizilien liegt und damit 50 Seemeilen näher an unserem Ziel-Einsatzgebiet vor der libyschen Küste. Die Menschen von Lampedusa haben Erfahrung mit Flüchtlingen, sie sind eine große Hilfe. Wir haben einen Ankerplatz im Hafen organisiert und eine Ferienwohnung, die uns für die Dauer des Einsatzes als Zentrale, Lager und Übernachtungsmöglichkeit dient. Das Wetter ist schlecht. Aber wir würden ohnehin nicht gleich ins Zielgebiet fahren. Auf der Überfahrt hat sich gezeigt, dass wir noch ein paar Optimierungen am Schiff vornehmen müssen.

Dienstag, 16. Juni

Heute hatten wir unsere erste Trainings-Ausfahrt, dabei lief noch nicht alles optimal. Einige Crew-Mitglieder, die bei der Überfahrt dabei waren, sind wieder heimgeflogen, neue sind zur Kern-Crew gestoßen. Klar, dass sich das erst einspielen muss. Die Medien waren auch dabei. ZDF, Vox. Der Reporter Michael Hölzen vom rbb (Rundfunk Berlin-Brandenburg) will ein tägliches Tagebuch für Radio und Regionalfernsehen machen. Unser Projekt ist auch als Medienprojekt angelegt. Wir wollen die Aufmerksamkeit auf die Probleme der Flüchtlinge lenken. Allerdings bringt das auch eine besondere Herausforderung mit sich. Wir sind nicht mehr unter uns.

Donnerstag, 18. Juni

Wir haben entschieden, Ausfahrten erst mal ohne Live-Berichterstattung zu machen. Michael Hölzen vom rbb ist deshalb abgereist. Uns war das vorher nicht bewusst, was das genau heißt, wenn man jemanden dabei hat, der jeden Tag live berichtet. Wir müssen an Bord zu acht auf engem Raum zusammenleben, und wir haben jeden Tag viel zu tun. Wenn man dann unter dem Druck steht, dass über alles, was gesagt und getan wird, gleich berichtet wird, ist das eine zusätzliche Anstrengung. Jede Aktion stand unter dem Vorzeichen, dass sie im nächsten Augenblick gesendet wird und man sich dafür auf Facebook rechtfertigen muss. Die Sea-Watch soll kein Big-Brother-Container werden.

Alltag an Board der "Sea-Watch". (Foto: Sea Watch)

Es sind weiter Journalisten an Bord, aber die stehen nicht so im Tagesgeschäft. Die bringen sich als Crew-Mitglieder ein, helfen beim Segelsetzen, machen in der Küche mit, übernehmen Wachen. Mit denen können wir abends noch mal über alles sprechen. Eine Live-Berichterstattung kostet uns zu viel Kraft. Das ist die erste große Lehre für uns im Mittelmeer.

Freitag, 19. Juni

Die Programmchefs des rbb haben kritisiert, dass ihr Reporter Hölzen seine Live-Berichterstattung beenden musste. Oliver Jarasch, der Chef der Sendung Brandenburg aktuell, sagt: "Wir dachten, allen Beteiligten ist klar, was unabhängige Berichterstattung bedeutet." Der rbb schwingt die Keule der Pressefreiheit. Das finden wir unberechtigt. Der rbb wollte eine Live-Berichterstattung, die kein humanitäres Projekt auf der ganzen Welt zulassen würde. Wir müssen uns einfach auch mal Schwächen leisten können, ohne dass sie anschließend im Radio übertragen werden.

Montag, 22. Juni

Nacht über dem Mittelmeer. Die Sea-Watch schaukelt sanft auf den Wellen, drumherum ist Dunkelheit. Wir sind im Zielgebiet, kurz vor der Grenze zum libyschen Hoheitsgewässer. Ein aufregender Tag ist zu Ende. Unser erster echter Einsatz. Schon am Sonntag hatte unser Satellitentelefon an Bord ein paar Mal geklingelt. Watch the Med, die private Überwachungsplattform, und Italiens Küstenwache haben uns darüber informiert, dass ein Schiff mit Flüchtlingen gesichtet wurde. Aber wir mussten nicht eingreifen, weil ein Handelsschiff näher dran war. Gut so. Wir stehen hier nicht in einem Retter-Wettstreit.

Harald Höppner hat das Projekt initiiert. (Foto: Sea Watch)

Aber heute war der Anruf konkret. Wir bekamen die Positionsdaten eines Schlauchboots mit 150 Leuten. Wir haben gleich das Maritime Rescue Coordination Center verständigt. Vom MRCC bekamen wir den Auftrag hinzufahren. Das haben wir gemacht. Die Sea-Watch ist relativ langsam, aber unser Beiboot ist schnell. Das haben wir mit einem Rettungssanitäter vorausgeschickt. Wir wollen verhindern, dass sich die Flüchtlinge erschrecken und an Bord Panik ausbricht, wenn plötzlich ein größeres Schiff auftaucht.

Als wir an der angegebenen Position ankamen, war das Boot nicht da. Wir fuhren weiter, um es zu suchen. Über uns knatterte ein Hubschrauber der italienischen Küstenwache. Bald darauf gab es neue Koordinaten, wenig später waren wir bei dem Boot mit den Flüchtlingen. Die Küstenwache brachte sie in Sicherheit.

Die Sea-Watch ist zu klein, um 150 Flüchtlinge aufzunehmen. Im Notfall können wir eine Rettungsinsel aussetzen und die Menschen über Wasser halten. Wir haben Schwimmwesten und Ärzte, wir sind ausgestattet, um erste Hilfe zu leisten und die Behörden bei der Rettung zu unterstützen. Wir wollen dabei helfen, dem Flüchtlingsproblem zu begegnen, und einen Anstoß für Lösungen geben. Die Politik ist gefordert. Denn lösen lässt sich das Problem nur, indem man den Menschen legale Einreisewege ermöglicht. Sonst werden sie weiter zu diesen riskanten Überfahrten in überfüllten Booten gezwungen.

Hier testet die medizinische Crew gerade einen Defibrillator. (Foto: Sea Watch)

Mittwoch, 24. Juni

Zurück auf Lampedusa. Die See schlug hoch. Drei-Meter-Wellen vor der libyschen Küste. Da fährt kein Flüchtlingsboot los. Wir kehren in dem Bewusstsein zurück, dass es richtig ist, was wir tun. Am Dienstag hat ein deutsches Marineschiff über 600 Flüchtlinge aus Seenot geholt. Und am Montag hatten wir selbst noch ein Signal auf dem Radar. Es war ein leeres Schlauchboot. Ein Frachter muss die Leute vor uns gerettet haben. Das Boot war in einem katastrophalen Zustand. Ein Schlauch war kaputt - damit wollten Menschen nach Europa. Das zeigt, was sie in Kauf nehmen, um über das Mittelmeer zu kommen.

Mittwoch, 1. Juli

Ein Tag im Hafen. Kein Einsatz, aber was heißt das schon. Das Schiff ist Wind und Wetter ausgesetzt, wir müssen den Verschleiß im Blick behalten. Heute mussten wir die Hydraulik-Zylinder der Ruderanlage warten. Außerdem war der nächste Crew-Wechsel zu organisieren. Wir haben unsere Stammspieler unter den Bootsleuten: Johannes Bayer zum Beispiel, der Schiffsbauingenieur ist. Oder Peer Maak, Maschinenschlosser. Sie müssen zwischendurch nach Hause in ihr Berufsleben. Aber sie kennen die Sea-Watch, als wäre sie ihr schwimmendes Wohnzimmer, deshalb kommen sie immer zurück. Die anderen sind nur für jeweils zwei Wochen da, weil die Spenden nicht reichten, um jemanden zu bezahlen. Und die Neuen müssen jedes Mal eingearbeitet werden.

Überflüssiges Material von der Überfahrt wird von Bord gebracht. (Foto: Sea Watch)

Montag, 6. Juli

Morgens um sechs haben wir die Plattform im Ölfeld Bouri passiert, rund 120 Kilometer nördlich vor der libyschen Küste. Die meisten Flüchtlings-Boote peilen diese Plattform an. Normalerweise starten die Flüchtlinge abends in Tripolis, weil sie da ungesehen von der Küste wegkommen. Am nächsten Morgen erreichen sie die Grenze des libyschen Hoheitsgebiets, oft mit dem letzten Tropfen Sprit. Deshalb ist dort unser Einsatzgebiet. Heute haben wir aber keinen Rettungseinsatz, sondern ein Treffen mit der Organisation Ärzte ohne Grenzen (MSF). Unser Doktor Frank Dörner, bis vergangenes Jahr Generaldirektor der MSF, ist mit der Medizin-Crew der Sea-Watch auf die Bourbon Argos gegangen, auf das große MSF-Rettungsschiff, um dort zu besprechen, wie wir kooperieren können.

Mittwoch, 8. Juli

Gegen neun Uhr. Da ist etwas am Horizont. Ein Boot. Vorsichtig steuern wir darauf zu. Bald sehen wir durchs Fernglas, dass Menschen auf dem Boot sind. Maschinen stopp. Wir verständigen die Rettungsleitstelle in Rom und die Bourbon Argos. Frank Dörner, ein zweiter Arzt und ein Arabisch-Übersetzer steigen ins Schnellboot. Sie nehmen Wasser und Schwimmwesten mit. Rasch nähern sie sich dem Boot. Es ist ein Schlauchboot mit Holzboden, zwölf Meter lang, nicht sehr stabil, schon gar nicht mit dieser Menge Menschen an Bord. Das Boot treibt im Wasser. Die Menschen sehen unser Schnellboot. Sie wollen, dass unsere Leute sich ausweisen. Sie rufen: "Wir wollen lieber sterben als nach Libyen zurück." Ihre Verzweiflung ist greifbar.

Die Bourbon Argos kommt, sie nimmt die Leute auf. Unser medizinisches Team hilft bei der Erstversorgung. Es zählt 98 Menschen. Zwei schwangere Frauen sind darunter und eine Person mit gebrochenem Bein. Der Antrieb des Bootes funktionierte nicht mehr richtig, aber die Menschen hatten kein funktionierendes Satellitentelefon. Sie hatten Glück, dass wir sie auf unserer Patrouille entdeckt haben.

Freitag, 10. Juli

Heute Morgen haben wir ein weiteres Boot gerettet. Wir haben es zu einem Tanker geschleppt und haben die Leute versorgt. 52 Personen. Sie waren zwei Tage auf See. Das ist nun schon unsere dritte Rettung in drei Tagen, nachdem wir am Donnerstag auch gleich wieder ein Boot gefunden haben. Wieder ein Schlauchboot, wieder manövrierunfähig, diesmal mit 105 Leuten. Wir verständigten die Küstenwache, die drei Stunden später eintraf.

Die Lage ist beklemmend. Die MSF hatten Einsätze mit ihren beiden Schiffen. Auch die Hilfsorganisation MOAS der Millionärs-Eheleute Christopher und Regina Catrambone haben mit ihrer Phoenix Flüchtlinge aus auswegloser Situation befreit. Zusammen haben wir als zivile Einsatzkommandos binnen kurzer Zeit viele Hundert Menschen gerettet. Dabei wäre es gar nicht die Aufgabe von uns Bürgerinitiativen, diese Art von Hilfe zu leisten. Es wäre die Aufgabe der staatlichen Truppen. Aber die Bundeswehr liegt im Hafen.

© SZ vom 11.07.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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