Nachruf auf Henrik Enderlein:Der Deutsch-Franzose

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Mit Mikrofon: Henrik Enderlein 2017 bei einer Podiumsdiskssion (Foto: The Jacques Delors Institute/Flickr/CC BY 2.0)

"Europa vereint denken", das war das Motto von Henrik Enderlein. Der Ex-Präsident der Berliner Hertie School ist an seiner Krankheit gestorben.

Von Cerstin Gammelin, Berlin

Das erste, was auffiel an Henrik Enderlein, war diese unbändige Energie. Dieses Unbedingte, wenn es um Frankreich und Deutschland ging, sein - doch, ja temperamentvolles - Bestreben, diese Verbundenheit voranzubringen, überall und bei jeder Gelegenheit. Die Anmeldungen liegen schon jetzt in den Tausenden, schrieb er in einer E-Mail 2017, da hatte der Professor für politische Ökonomie und Präsident der Hertie School in Berlin gerade das perfekte deutsch-französische Podium für eine Diskussion zusammengestellt. Emmanuel Macron, damals im noch Präsidentschaftswahlkampf, Sigmar Gabriel, damals noch wahlkämpfender SPD-Chef, und Jürgen Habermas, die intellektuelle Instanz fürs Europäische. Wir werden nicht alle Angemeldeten zulassen können, schrieb Enderlein. "Ich würde mich aber ganz besonders über Ihre/Deine Teilnahme freuen."

Henrik Enderlein hatte hohe Ansprüche, an sich selbst, aber auch alle anderen. Geboren 1974 in Tübingen, ging er früh auf Expedition, erst nach Frankreich, danach in die USA. Von 1995 bis 1998 studierte er Politik- und Wirtschaftswissenschaften am Institut d'etudes politiques de Paris. Manchmal hat er erzählt, wie er bei seiner Ankunft in Paris in der Le Monde das Wörtchen Maastricht gelesen hat und damals noch mühsam aus dem Französischen den Text übersetzte. Eine neue Währung sollte kommen. Incroyable. Sie sollte seine berufliche Leidenschaft werden.

Auf Sciences Po folgte ein Promotionsstipendium an der Columbia Universität in New York von 1998 bis 1999. Von 1999 bis 2001 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln. Es folgten zwei Jahre an der Europäischen Zentralbank, mit 29 Jahren wurde er Juniorprofessor für Wirtschaftswissenschaften an der der FU Berlin. 2005 wurde er in die Gründungsfakultät der Hertie School of Governance in Berlin berufen, wo er von 2007 bis 2012 Vize-Rektor war, 2018 wurde er zum Präsidenten berufen. Das Amt musste er Mitte Februar 2021 krankheitsbedingt aufgeben.

Der Élysée rief ihn immer wieder, um französische Präsidenten zu beraten

Es hat ihm sichtlich Freude gemacht, Verbindungen quer durch Europa zu knüpfen und Netzwerke aufzubauen, er hat Kontroversen gesucht, aus denen überraschende Ideen und Projekte entstanden. Henrik Enderlein hat die Hertie School geprägt, seine Studenten mochten ihn und ließen seine Studien und Kommentare durch die sozialen Netzwerke rauschen, man könnte auch sagen, er war als Professor ihr Star. Im Jahr 2014 wurde er Gründungsdirektor des Jacques-Delors-Centre in Berlin, das auf Initiative des einstigen EU-Kommissionschefs Jacques Delors etabliert werden sollte - eine "pro-europäische Denkfabrik", parallel zum bereits in Paris gegründeten und ebenfalls nach Delors benannten Institut. Es war Enderlein eine große Ehre; das Jacques-Delors-Centre wurde sein großes Projekt, "Europa vereint denken".

Wer den deutsch-französischen Beziehungen den Puls messen wollte, war immer richtig bei Enderlein. Die Kontakte aus der Studienzeit hatten gehalten, er hatte den kurzen Draht in den Élysée, man rief ihn immer wieder, um französische Präsidenten zu beraten. Das Deutsch-Französische lag ihm so am Herzen, dass er schon mal auf der Skipiste einen Einkehrschwung extra gemacht hat, aber nicht für einen Jagertee, sondern um Zitate abzustimmen - wenn er Vorschläge aus Brüssel bewertete. Es brauchte jemanden wie ihn in Berlin, der immer da war, wenn die deutsch-französische Beziehung zu einer, wie die Diplomaten sagen, On-off-Angelegenheit zu werden drohte. Enderlein hat nicht mit Kritik gespart, wenn das Budget für die Eurozone zu kümmerlich auszufallen droht.

Im Gespräch: Enderlein 2018 zwischen dem damaligen EZB-Chef Mario Draghi und Finanzminister Olaf Scholz. (Foto: Regina Schmeken)

Er hat seine Drähte in den Élysée genutzt, um Macrons Berater nach Berlin zu holen in Hintergrundrunden, er hat Studien vorangetrieben und im Delors-Centre das Format "EU to go " erfunden. Gedacht war es als französisches Frühstück vor der Arbeit, immer 30 Minuten mit Café und Croissants, kompakte Hintergründe zur Europapolitik mit Fellows, Journalisten, Wissenschaftlern, Politikern. Es wurde ein solcher Erfolg, dass daraus ein Podcast entstanden ist.

Henrik Enderlein war korrekt und verlässlich und hat das auch von anderen erwartet. Bevor er nach Paris ging zum Studieren, hatte er bei der Berliner Morgenpost gejobbt und gelernt, dass man eines nie machen sollte: Namen falsch schreiben. Wohl auch, weil er selbst immer wieder auf die richtige Schreibweise seines Namens achten musste, zu oft schlich sich ein "d" ein. Als die Süddeutsche Zeitung ihm ein Buch schickte als Belegexemplar mit einem Beitrag über ihn, dankte er höflich mit dem Hinweis, er hoffe auf ein neues Exemplar mit korrigiertem Namen, Henrik bitte ohne "d".

Die Liebe zu Frankreich hat er auch privat in der Familie gelebt, er hatte eine Französin geheiratet, sie haben vier Kinder. Als 2016 sein Jüngstes geboren wurde, dankte er ganz herzlich für die Glückwünsche und schrieb: Es ist ein Sohn, übrigens, auch wenn der Unterschied zu Aurélie von Aurélien nur ein "n" ist. E-Mails wie diese zauberten ein Lächeln auf das Gesicht der Lesenden. Ach, typisch. Die Postfächer sind noch voll mit seinen Nachrichten.

Am 28. Mai 2021 ist Henrik Enderlein mit 46 an einem Krebsleiden gestorben.

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