Vor sechs Jahren sprach das Bundesverfassungsgericht ein Machtwort: "Kinder", stellten die obersten Richter in einem Grundsatzurteil fest, "sind keine kleinen Erwachsenen". Was sie für ein menschenwürdiges Leben benötigten, "hat sich an kindlichen Entwicklungsphasen auszurichten und an dem, was für die Persönlichkeitsentwicklung eines Kindes erforderlich ist". Dies habe die Bundesregierung bei der Berechnung der Hartz-IV-Leistungen für Kinder jedoch nicht berücksichtigt. Hier gebe es einen "völligen Ermittlungsausfall".
Nach den großen Worten des höchsten Gerichts schuf die damalige Arbeitsminister Ursula von der Leyen (CDU) das Bildungs- und Teilhabepaket ( siehe Info unten). Es sollte die Defizite bei der Förderung von 2,7 Millionen Kindern aus einkommensschwachen Haushalten ausgleichen. Doch fünf Jahre nach Einführung der Hilfeleistungen ziehen der Paritätische Wohlfahrtsverband und der Deutsche Kinderschutzbund eine vernichtende Bilanz. "Dieses Paket ist gescheitert, es bewegt nichts", sagt Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands.
Schon die Datenlage ist lückenhaft: Obwohl eine Menge Steuergeld in das Paket fließt, gibt es keine amtliche aktuelle Statistik darüber, in welchem Ausmaß Familien die verschiedenen Leistungen in Anspruch nehmen. Bekannt ist nur, dass 2014 etwa 531 Millionen Euro ausgegeben wurden. Davon verschlangen aber allein die Verwaltungskosten 136 Millionen Euro. Schneider bezeichnet das Bildungspaket deshalb als die "von allen Sozialleistungen für Kinder unsinnigste, teuerste und wirkungsloseste".
Ob für den Ausflug ins Puppentheater für sieben Euro, die mehrtägige Abschlussklassenfahrt für 450 Euro, den Mitgliedsbeitrag für den Sportverein, das Mittagessen in der Schule oder den Nachhilfeunterricht - die Familien müssten vierseitige, komplizierte Anträge ausfüllen, Unterschriften einholen, Belege einreichen, Kopien machen. Viele wagten sich an das Bildungspaket deshalb erst gar nicht heran. Auch für Kommunen, Schulen, Kindergärten oder Vereine sei der Verwaltungsaufwand enorm. Darauf wiesen auch zwei Praktiker hin, die die beiden Verbände eingeladen hatten. Mike Menze, Pädagogischer Koordinator am Kinder-Kiez-Zentrum in Berlin-Wedding, sagt: "Das Paket wird von den Menschen nicht angenommen. Es hat sogar dazu geführt, dass weniger Ausflüge unternommen werden."
"Diesen Murks kann man nicht reformieren", sagt der Verbandschef
Auch Karl Sasserath, Leiter des Arbeitslosenzentrums Mönchengladbach, sieht das frühere Prestigeprojekt der heutigen Bundesverteidigungsministerin kritisch: In der Stadt lebe jedes dritte Kind in einem Hartz-IV-Haushalt. "Geändert hat sich daran nichts, die Hartz-IV-Quoten sind sogar gestiegen."
Für Heinz Hilgers, Präsident des Kinderschutzbundes, waren die Leistungen von Anfang an zu niedrig gewesen, und sie seien auch nicht an die steigenden Lebenshaltungskosten angepasst worden. Als Beispiel nennt er die Grundausstattung für Schüler, eine Leistung, die früher im Hartz-IV-Regelsatz steckte, dort gestrichen und jetzt extra gewährt wird. Dafür gibt es 70 Euro zum Schuljahresbeginn und 30 Euro zu Beginn des zweiten Halbjahrs. Tatsächlich liege der Bedarf aber bei mehr als 200 Euro. Dies ergebe sich aus den Listen, die die Lehrer zum Schuljahresbeginn an die ABC-Schützen verteilen.
Während diese Leistung von den Familien überwiegend genutzt wird, sieht es bei den anderen Angeboten düster aus: Hilgers wies darauf hin, dass 14 Prozent und in der Oberstufe sogar 30 Prozent der Schüler Nachhilfe bekommen. Laut Umfragen haben allerdings nur vier Prozent der Kinder aus den einkommensschwachen Familien die entsprechenden Zuschüsse beantragt. Auch beim Zehn-Euro-Gutschein für Musikstunden oder für die Mitgliedschaft in Vereinen sind aus Sicht der Sozialverbände die Zuschüsse viel zu gering. "Was nützen zehn Euro im Monat für den Vereinsbeitrag, wenn das Kind außerdem Fußballschuhe braucht?", sagt Schneider.
Der Hauptgeschäftsführer des Wohlfahrtsverbands fordert, das Bildungspaket abzuschaffen: "Diesen Murks kann man nicht reformieren". Stattdessen verlangt er die Förderung neu zu ordnen, und sie nicht bei den Jobcentern, sondern bei der Kinder- und Jugendhilfe zu verankern. Nötig sei ein individuell einklagbarer Rechtsanspruch auf die Leistungen. In der Pädagogik, sagt Schneider, gibt es die "Komm-Struktur. Man wartet darauf, dass jemand kommt. So funktioniert Jugendhilfe aber nicht. Man muss zu den Leuten gehen."