Hartz IV:Höchstrichterliches Schulterzucken

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Hartz-IV-Bezieher haben nur Anspruch auf Übernahme "angemessener" Mietkosten, urteilt das Bundesverfassungsgericht. Doch eben deren Festlegung bleibt strittig.

Von Wolfgang Janisch, Karlsruhe

Als das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2010 die Regeln zu Hartz IV beanstandete, glaubten manche, das Gericht entwickle sich zur Zentralinstanz für soziale Gerechtigkeit. Dabei hatte das Gericht keineswegs festgelegt, was das menschenwürdige Existenzminimum in Euro bedeutet, sondern nur, dass der - allerdings großzügig umrissene - Bedarf in einem schlüssigen Berechnungsverfahren ermittelt werden muss. Nun, gut sieben Jahre später, hat das Gericht über ein sozialpolitisch brisantes Berechnungsverfahren entschieden, das Kritikern als unschlüssig oder jedenfalls unsozial erscheint. Es geht um die "Kosten der Unterkunft", das ist die kleine Schwester der Regelsätze von Hartz IV und Grundsicherung. Die Hoffnung, Karlsruhe werde es richten, ist enttäuscht worden: Eine Kammer des Ersten Senats hat eine Verfassungsbeschwerde und zwei buchdicke Vorlagebeschlüsse des Sozialgerichts Mainz mit bemerkenswert knapper Begründung abgewiesen.

Geklagt hatte eine Frau aus Freiburg, die seit 1985 eine 77-Quadratmeter-Wohnung bewohnt und seit 2005 Hartz IV bezieht. Dazu gehörten auch Kosten der Unterkunft, die vor ihrer Klage bei 461 Euro lagen; ihre Gesamtmiete betrug gut 700 Euro. Das Jobcenter legte später zwar noch ein paar Euro drauf, aber die als "angemessen" erachtete Miete blieb deutlich hinter der tatsächlichen zurück. Dass sich bei der Übernahme der Miete eine Kluft auftut, ist nach Auskunft von Margret Böwe vom Sozialverband VdK inzwischen zum Massenphänomen geworden. In Zahlen: Pro Monat überweisen Leistungsempfänger bundesweit 50 Millionen Euro mehr an ihre Vermieter, als sie von der Sozialbehörde erhalten. Der überheizte Wohnungsmarkt trifft die Bezieher von Sozialleistungen besonders hart. Die steigenden Mieten wandern aus dem Kostenrahmen heraus, den die Sozialbehörden als "angemessen" festgesetzt haben, die Betroffenen bekommen eine Frist zum Umzug in eine kleinere Wohnung gesetzt - und falls sie nichts finden, tragen sie die Mehrkosten aus ihrem Regelsatz. "Für viele Betroffene entwickelt sich daraus ein Verschuldungskreislauf", sagt Böwe.

Die Anwälte der Klägerin wie auch das Sozialgericht Mainz hatten in Karlsruhe nun den Modus angegriffen, nach dem die Angemessenheit der "Kosten der Unterkunft" festgelegt wird. Weil sich dafür keine zentralen Größen festsetzen lassen, ermitteln die Kommunen - meist mithilfe spezialisierter Institute - eine Obergrenze angemessener Wohnkosten. Das ist einerseits sinnvoll, weil sie näher dran an den lokalen Wohnungsmärkten sind. Andererseits ist es für die Städte und Gemeinden verführerisch, die Grenze möglichst niedrig zu halten - weil die Kosten zum größten Teil aus dem Kommunalhaushalt bezahlt werden. Jedenfalls hakt die Sache beträchtlich, immer wieder beanstanden die Sozialgerichte die kommunalen Mietgrenzen. Selbst die Werte aus ähnlichen Wohnungsmärkten wiesen teilweise so auffällige Unterschiede auf, dass dies nicht mehr mit dem unterschiedlichen Preisniveau erklärbar sei, heißt es in einer im Auftrag des Bundessozialministeriums gefertigten Studie des Instituts Wohnen und Umwelt.

Welch absurde Resultate das behördliche Festsetzungswesen zeitigen kann, illustriert ein anderer Fall aus Freiburg, der mit der aktuellen Entscheidung nichts zu tun hat. Eine junge Frau hat ihren Bruder in ihrer Wohnung aufgenommen, er leidet an einem atypischen Autismus und ist als schwerbehindert anerkannt. Früher hat das Sozialamt den vollen Mietbetrag übernommen, der rechnerisch auf ihn entfiel - das war annähernd die Hälfte einer Miete von gut 700 Euro. Nun leben sie zu dritt mit dem Partner der Frau in einer neuen, 1300 Euro teuren Wohnung. Rechnerisch würden auf den Bruder, der ein größeres Zimmer hat, gut als 500 Euro entfallen. Doch seit einer Gesetzesänderung vom Juli dieses Jahres errechnet sich sein Anspruch aus der Differenz zwischen den Grenzen für eine Zwei- und eine Drei-Zimmer-Wohnung. Das Ergebnis dieses schwindelerregenden Rechenmanövers: Das Sozialamt zahlt als "Kosten der Unterkunft" nur noch 143,10 Euro. Die Schwester, die sich ohnehin um den Bruder kümmert, subventioniert damit auch seinen Mietanteil.

Die Diagnose, dass es bei der Kostenübernahme krankt, fällt freilich leichter als die Therapie. Der Gesetzgeber muss keinen Anspruch auf unbegrenzte Übernahme der Wohnungskosten vorsehen, schreibt Karlsruhe. Aber reicht es, dass er sich auf das Wörtchen "angemessen" beschränkt? Oder müsste er nicht per Gesetz einen verbindlichen Berechnungsmodus vorschreiben? Das Gericht antwortet mit einem höchstrichterlichen Schulterzucken: Verfassungsrechtlich seien die Regeln in Ordnung, aber eine "weitere Konkretisierung des Leistungsanspruchs" durch den Gesetzgeber sei nicht ausgeschlossen.

© SZ vom 15.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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