Grüne:Eine Brauerei voller Fragezeichen

Lesezeit: 3 min

Kein Absturz, aber auch kein Erfolg: Nun könnten die unzufriedenen Parteilinken eine Jamaika-Koalition torpedieren.

Von Michael Bauchmüller, Berlin

Der Ort allein spricht Bände. Für ihre Wahlparty, wenn man davon sprechen mag, haben sich die Grünen ein Industriedenkmal ausgesucht, im Berliner Problemstadtteil Neukölln. Bis vor wenigen Jahren wurde hier Bier gebraut, seither sucht dieser Ort, sucht das ganze Viertel nach einer neuen Bestimmung. Opern wurden hier aufgeführt, die "Jesus Freaks" hielten hier Gottesdienste ("Goddis") ab, Szeneclubs zogen ein. Es gab Veränderung ohne Ende, doch dort draußen blieb Neukölln.

Das passt für ein kompliziertes Wahlergebnis, das für die Grünen zumindest die schlimmsten Befürchtungen zerstreut: Um die 9,2 Prozent haben sie ersten Hochrechnungen zufolge bekommen. Aber was folgt daraus? Das einstige "Vollgutlager" der Berliner-Kindl-Brauerei ist an diesem Abend ein Raum der Fragezeichen mit morbidem Industrieambiente. Zumal jeder Prozentpunkt rauf oder runter den Unterschied machen wird zwischen Erleichterung und Abrechnung, heiklen oder sehr heiklen Sondierungen, Koalition oder Opposition. Am Sonntagabend aber ist es erst einmal Erleichterung, denn auch sechs oder sieben Prozent hätten es sein können.

Die Liberalen - waren das nicht die Todfeinde der Ökologie? Für viele an der Basis sind sie es noch

Koalition oder Opposition, das ist Frage eins nach diesem Abend. Wie es aussieht, reicht es bequem für ein Jamaika-Bündnis mit Union und FDP. Aber wollen das die Grünen? Schon rebellieren erste Kreisverbände gegen ein Bündnis mit der FDP - vor Kurzem noch der Todfeind vieler Grüner. In den letzten Wahlauftritten hatte Spitzenkandidat Cem Özdemir auffällig oft von den "Kollegen von der FDP" gesprochen - um sich dann sachte von den Liberalen zu distanzieren. Tiefe Gräben aber riss er nicht auf. An der Basis macht das die Sache aber nicht leichter. "Wir werden eine Reihe von grünen Kernthemen in den Vertrag hereinverhandeln müssen", sagt eine Spitzen-Grüne. "Sonst läuft es nicht." Andererseits reden manche in der Partei schon von der "staatspolitischen Verantwortung": Koaliert die SPD tatsächlich nicht mehr mit der Union und scheitert zugleich Jamaika am Widerstand der Grünen - dann ginge die Partei mit einer schweren Hypothek in die Opposition.

Katrin Göring-Eckardt und Cem Özdemir feiern das Ergebnis. Sie haben die Grünen als Realo-Partei präsentiert: wenig radikal, sehr offen für eine Koalition mit der Union – zur Not eben auch mit der FDP. (Foto: Ralf Hirschberger/dpa)

Und außerdem gibt es nun einen neuen Feind: die AfD. Im Vollgutlager erntet ihr Ergebnis Pfiffe und Buhrufe. Das schweißt zusammen gegen rechts - womöglich auch mit dem alten Erzfeind FDP. Frage zwei im Vollgutlager ist am frühen Abend die nach der Platzierung: Nummer fünf, Nummer sechs? Schwächer als die FDP in eine Jamaika-Koalition einzuziehen, würde die Verhandlungen nicht leichter machen. Doch weil die Grünen so viel weniger erwartet hatten, sind die 9,5 Prozent nun ein Polster für die Parteispitze. Doch vor allem im linken Flügel gärt es. Schon jetzt werfen viele in der Partei der Spitze vor, sie habe das Profil verwässert.

Die Parteilinke hatte den ganzen Wahlkampf über stillgehalten, der Geschlossenheit halber. Dabei hatten die beiden Spitzenkandidaten Katrin Göring-Eckardt und Cem Özdemir, beide Realos, einen klaren Realo-Wahlkampf gemacht: wenig radikal, sehr offen für eine Koalition mit der Union, zur Not eben auch mit der FDP. Nicht ohne Grund flocht Özdemir in Wahlkampfreden auch gern mal ein Lob an die Polizei ein, die "diese Demokratie erst möglich macht", verteidigte die Kanzlerin gegen rechten Mob. Die Parteilinke ließ es geschehen. Jetzt aber dürfte die Debatte über den Kurs aufbrechen.

Das gilt auch für das Verhältnis zwischen der Partei und ihren Realpolitikern in den Bundesländern, allen voran Winfried Kretschmann. Der Ministerpräsident von Baden-Württemberg ließ mehrmals durchblicken, wie wenig er etwa vom Verbot von Verbrennungsmotoren hält, einem Kernthema im Grünen-Wahlkampf. Der Glaubwürdigkeit der Partei half das nicht. Kretschmann, so argumentieren nun seine Kritiker, habe die Profilschwäche noch verschärft. So nimmt die Abrechnung schon am Wahlabend ihren Lauf. Obwohl eben bei Redaktionsschluss dieser Ausgabe noch einiges drin ist, nach oben wie unten.

Die Grünen hatten noch Schlimmeres befürchten müssen, nach einer Zeit, die mit der unseligen Debatte über den Polizeieinsatz in der Kölner Silvesternacht begann und sich mit einer Wahlschlappe in Nordrhein-Westfalen fortsetzte. Doch in den letzten Wochen vor der Wahl schien sich die Stimmung zugunsten der Grünen zu ändern. Öko-Themen wurden wichtiger, auch wegen der Katastrophenbilder aus aller Welt. "Dieser Wahlkampf war ganz anders als der 2013. Damals dominierten andere Themen. Diesmal ging es wirklich um unsere grünen Themen, um Klima, Landwirtschaft, Verkehr", sagt Göring-Eckardt. "Das hat uns geholfen."

Und wenn man schon einmal die Marke von sechs Prozentpunkten befürchten musste, dann sind mehr als neun plötzlich ein voller Erfolg, trotz des alten Wahlziels: zweistellig wollten die Grünen wieder werden.

© SZ vom 25.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: