Grüne:Den Staat lieben lernen

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Früher war die Partei antiautoritär, heute zieht sie urbürgerliche und wertorientierte Wähler an.

Von Constanze von Bullion

Ein grünes Wunder steht nicht zu erwarten, das nicht. Und es wird auch nicht der Messias herabsteigen, wenn Robert Habeck ab sofort aufhört, Minister zu sein in Kiel, und seinen Arbeitsmittelpunkt endlich nach Berlin verlegt. Vor acht Monaten wurde der schleswig-holsteinische Umweltminister zum grünen Bundesvorsitzenden gewählt, mit Annalena Baerbock. Habeck, ein begabter Kopf und Menschenfischer, wurde damals mit Vorschusslorbeeren regelrecht überhäuft. Außer ein paar interessanten Zwischenrufen aber und eher ich-orientierten Blogbeiträgen war abseits der Kieler Förde noch wenig Kerniges von Habeck zu hören. Das sollte, ja, das muss sich ändern. Die Grünen brauchen jetzt Leute, die sich etwas trauen.

38 Jahre nach ihrer Gründung im Westen Deutschlands steht die Partei mit dem Holpernamen Bündnis 90/Die Grünen so gut da wie seit vielen Jahren nicht mehr. Im Bundestag sind die Grünen zwar kleinste Fraktion, aber zu Wortführern gegen die AfD geworden. In zehn Bundesländern regieren sie inzwischen mit, und wenn man Meinungsforschern glauben darf, steigt ihr Ansehen auch bei Wählern, die sich früher eher die Hand abgehackt hätten, als ihr Kreuz bei einem Haufen wie den Grünen zu machen.

Im bayerischen Landtagswahlkampf ist das etwa zu beobachten. Nach Umfragen stehen die Grünen hier bei 15 Prozent und sind an der SPD vorbeigezogen. Zu verdanken haben sie das auch der CSU, die so ausdauernd gegen die Kanzlerin und alles vermeintlich Fremde im Land geschossen hat, dass es auch CSU-Stammwählern reicht. Es sind insbesondere Kirchenleute, Frauen, auch Ältere, die sich vom nassforschen Rechtskurs der Söders und Dobrindts abwenden und Unterschlupf bei einer Partei suchen, die viele einst irgendwo zwischen Kopfläusen und Terrorismus verortet haben.

Urbürgerliche, wertorientierte Wähler brechen da auf ins Grüne, zumindest vorübergehend. Umgekehrt nähern sich auch die Grünen selbst im Eiltempo einer Weltsicht an, für die sie früher nur Verachtung übrighatten. Die Partei, deren Anhänger einst den "Bullenstaat" bekämpften, verteidigt diesen Staat heute mit Klauen und Zähnen gegen rechts. Seit der Hitlergruß in Deutschland wieder schick ist, treten Grüne laut wie kaum eine andere Partei für die demokratischen Grundordnung ein, für Sicherheit und die Herrschaft des Rechts. Im Europawahlprogramm, das am Freitag präsentiert wurde, heißt es sogar, man wolle eine "verstärkte Zusammenarbeit der Streitkräfte in der EU". So viel Systemtreue war nie und so viel Lob aus dem bürgerlichen Lager. Selten aber war die Gefahr so groß, dass die Grünen sich überschätzen.

Denn trotz aller guten Umfragewerte könnte die Partei am Rand bleiben: in Bayern, wo eine Koalition mit der CSU sie jede Glaubwürdigkeit kosten würde. In Hessen, wo es für Schwarz-Grün nicht mehr reichen könnte. Im Osten, der grünen Diaspora. Und im Bund, wo Parteichef Robert Habeck nun beweisen muss, dass er kein Blender ist. Die Grünenspitze muss mutigere Antworten geben als bisher auf Fragen von Migration und Abschiebung, von Ungerechtigkeit, Verödung auf dem Land und Radikalisierung. Habeck, der Wunderknabe, muss jetzt liefern. Sonst folgt dem Rausch bald Ernüchterung und eine Heimkehr in die Nische.

© SZ vom 01.09.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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