Grubenunglück in der Türkei:Ein Erdoğan kennt keinen Schmerz

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Recep Tayyip Erdoğan besucht die Stelle des Grubenunglücks. (Foto: AP)

Premier Recep Tayyip Erdoğan setzt offenbar darauf, dass die Bürger das furchtbare Grubenunglück von Soma schnell wieder vergessen. Der Schmerz der Menschen scheint ihn nicht mal besonders zu interessieren.

Ein Kommentar von Christiane Schlötzer, Istanbul

Bilder sind mächtig, sie können ein Feuer entfachen, das so schwer zu löschen ist, wie das in der türkischen Kohlegrube von Soma. Eines jener Bilder zeigt einen Mann, einen Berater von Premier Recep Tayyip Erdoğan, mit Krawatte und weißem Hemd, der mit voller Wucht nach einem Demonstranten in Soma tritt. Es gibt ein weiteres Foto, das am Donnerstag die türkischen Medien beherrscht: die rußgeschwärzten Füße eines aus der Katastrophenzeche geborgenen Bergmanns.

Weiße Weste, schwarze Füße - dazwischen liegt das Unglück der Türkei. Der Unfall von Soma, das folgenschwerste Bergwerksdrama in 90 Jahren Türkischer Republik, symbolisiert die dunkle Seite des Wirtschaftsbooms der Erdoğan-Dekade. Das Nationaleinkommen hat sich in dieser Zeit verdreifacht, worauf der Premier mit Stolz verweist. Nicht erwähnt wird, dass die Arbeitsbedingungen in der Türkei in vielen Branchen äußerst rau sind.

Ob auf Baustellen oder Teeplantagen, in Textilbetrieben und Werften - Arbeitssicherheit wird oft eher klein geschrieben, Lohndrückerei in Subunternehmen dagegen meist groß. Nicht an Gesetzen fehlt es, aber an Kontrollen. Nur fünf Prozent der Arbeiter sind gewerkschaftlich organisiert, das sind Erdoğan immer noch zu viele: Demonstrationen zum 1. Mai dürfen nicht auf symbolischen Plätzen - wie dem Istanbuler Taksim - stattfinden, sondern nur am Stadtrand, wo es keiner sieht.

Die Reaktion des Premiers auf das Grubenunglück ist zynisch

Erdoğan liegt daher mit seinem Verweis auf die Bergwerksunfälle im England des 19. Jahrhunderts gar nicht so falsch, auch wenn der Vergleich für ein Land, das Satelliten baut und Atomkraftwerke errichten will, alles andere als schmeichelhaft ist. Nur noch zynisch aber wirkt es, wenn der Regierungschef die miesen Bedingungen in Teilen der türkischen Wirtschaft als schicksalhaftes Arbeitsplatzrisiko bezeichnet. Erdoğan setzt offenbar darauf, dass der Schmerz und die Toten aus der Kohlegrube von Soma wieder vergessen und verdrängt werden, wie so viele Opfer anderer Katastrophen in der jüngeren Geschichte der Türkei, von Erdbeben, Kurden-Krieg, Militärmassakern oder den Gezi-Protesten erst vor einem Jahr.

Erdoğan könnte damit auf längere Sicht sogar recht behalten. Laut Umfragen glaubt nur ein Viertel der Türken, das eigene Schicksal beeinflussen zu können. Nur: Der Regierungschef wollte eigentlich in diesen Tagen entscheiden, ob er sich in wenigen Wochen bei der Präsidentenwahl dem Votum des Volkes stellen möchte. So schnell werden die Reihen der Särge kaum aus dem Gedächtnis verschwinden.

Die Strategie Erdoğans lautete stets: Ich teile und herrsche. Damit hat er das Land polarisiert und alle Wahlen gewonnen. Dieses Rezept dürfte zumindest nach Soma nicht mehr so gut funktionieren. Denn die Menschen im Ruhrgebiet der Türkei waren bislang keine Regierungsgegner, viele wählten AKP. Deshalb wirkt das Bild des Erdoğan-Beraters Yusuf Yerkel, der auf einen liegenden Protestler eintritt, so fatal. Denn dessen schlichte Botschaft lautet: Euer Schmerz interessiert uns nicht.

© SZ vom 16.05.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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