Griechenland:Liebling, lass das Lügen

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EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker glaubt, dass Regierungschef Alexis Tsipras ihn hintergangen hat - und das griechische Volk dazu.

Von Daniel Brössler und Alexander Mühlauer

Auf dem großen Bildschirm im Pressesaal der Europäischen Kommission ist die Welt noch in Ordnung. Die Streifen der griechischen Flagge prangen harmonisch neben den Sternen der EU-Fahne. Davor steht Jean-Claude Juncker. Was der Präsident der EU-Kommission den Journalisten zu sagen hat, ist kein Statement und auch keine simple Rede. Es beginnt vielmehr als Anklage und steigert sich zur Philippika. Es ist eine Ansprache, wie sie wohl nie zuvor ein Kommissionspräsident an ein einzelnes Volk gerichtet hat. Juncker beginnt mit einer Liebeserklärung an die Griechen. Am Anfang sagt er: "Ich wollte nie, dass Platon in der zweiten Liga spielt." Am Ende wird klar sein, dass es Juncker um nicht weniger geht als den Platz Griechenlands in Europa.

In den vergangenen Monaten hatte Juncker sein ganzes politisches Gewicht in die Verhandlungen über eine Verlängerung des Hilfsprogramms gelegt. Bis an die Grenzen des für einige EU-Staaten Erträglichen demonstrierte er so sein Verständnis von einer politischen Kommission. "Ich habe es wieder und wieder versucht. Ich habe mich tags und nachts in den Verhandlungsprozess eingebracht", sagt er, und zwar, wie er betont, im Wortsinne. Und so nimmt Juncker den Abbruch der Verhandlungen durch die griechische Seite persönlich. "Ich fühle mich etwas verraten. Mein persönliches Engagement war ehrlich gemeint", versichert er. Und fragt: "Woher kommen die Beleidigungen, woher kommt diese Rhetorik?"

"Wir haben alle Möglichkeiten ausgeschöpft, um eine Einigung zu finden"

Diese "Beleidigungen". In einem Brief an EU-Ratspräsident Donald Tusk und die Staats- und Regierungschefs hatte der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras den Vorschlag von EU-Kommission, Europäischer Zentralbank (EZB) und Internationalem Währungsfonds (IWF) noch einmal als "Ultimatum" geschmäht. Immer wieder sprach die griechische Seite von "Erpressung". Nicht durch die Blume, sondern eigentlich ganz direkt wirft Juncker Tsipras in seiner Brandrede vor, sein Volk zu belügen. "Die griechischen Bürger müssen wissen, worum es geht. Sie haben ein Recht auf die volle Wahrheit", sagt er.

Junckers Wahrheit lautet: "Die griechischen Kollegen haben den Tisch zum schlimmstmöglichen Zeitpunkt verlassen." Immerhin sei es auch um 35 Milliarden Euro gegangen, um die griechische Wirtschaft wieder anzuschieben (siehe nebenstehenden Bericht). "Das ist kein stupides Sparpaket", verteidigt Juncker den von den Griechen verworfenen Vorschlag. Am Sonntag hatte die Kommission im Sinne der Transparenz den Vorschlag veröffentlicht. Weder seien darin Lohn- noch Rentenkürzungen verlangt worden, sagt Juncker. So ganz stimmt das nicht, denn die Kreditgeber fordern, den Gesundheitsbeitrag für Renten von vier auf sechs Prozent anzuheben - de facto ist das nichts anderes als eine Rentenkürzung.

"Wir haben alle Möglichkeiten ausgeschöpft, um mit Griechenland eine Einigung zu finden. Es war nie die Rede von 'Friss oder stirb'", beharrt Juncker. Vor allem habe die Kommission auf soziale Ausgewogenheit geachtet und sich um die Folgen für die Ärmsten gesorgt. Er hätte sich gewünscht, die griechische Regierung hätte das auch getan, sagt Juncker. Bände spricht das über den Grad der Zerrüttung im Verhältnis zwischen ihm und Tsipras: Der christdemokratische Kommissionspräsident wirft dem linken Regierungschef und seinen Unterhändlern vor, sich nicht um die Armen zu scheren.

Und so spricht Juncker im Pressesaal des Brüsseler Berlaymont-Gebäudes eigentlich zu den Griechen. "In der Euro-Zone gibt es 19 Demokratien, nicht nur eine", mahnt er. "Eine Demokratie ist nicht mehr wert als die andere. Es stehen nicht 18 gegen eine." Das richtet sich gegen die Syriza-Polemik, wonach der Wille des griechischen Volkes von den "Institutionen", also EU-Kommission, EZB und IWF, missachtet werde. Genau aber achtet Juncker darauf, das demokratische Recht der griechischen Regierung, das Volk in einem Referendum zu Wort kommen zu lassen, nicht infrage zu stellen. Mehr noch: Er kapert dieses Referendum und appelliert dabei direkt an das griechische Volk.

Ist das Referendum eine Abstimmung über Griechenlands Schicksal in Europa? Demo in Thessaloniki. (Foto: Giannis Papanikos/AP)

Zwar befinde man sich "in der allerletzten Millisekunde", es gebe aber noch eine Chance. "Ich werde die Griechen nicht im Stich lassen, und ich weiß, dass das griechische Volk Europa nicht im Stich lassen wird", verkündet Juncker. Und: "Ich wende mich an die griechischen Bürger und bitte sie, mit Ja abzustimmen." Das ist insofern bemerkenswert, als zu diesem Zeitpunkt nicht einmal bekannt ist, wie die Frage des Referendums genau formuliert sein soll. Das interessiere ihn nicht und auch sonst niemanden außerhalb Griechenlands, stellt der Chef der EU-Kommission klar. "Ein ,Nein' würde heißen: Griechenland sagt Nein zu Europa", sagt Junker. Es ist der Satz, mit dem er das griechische Referendum zur Abstimmung über Griechenlands Schicksal in der EU erklärt.

So hat Juncker den Einsatz noch einmal erhöht in einem Spiel, dessen Regeln unklar sind. Was, wenn die Griechen mit Ja stimmen? Würden dann Verhandlungen über ein neues Hilfspaket beginnen? Und mit wem? Mit jener griechischen Regierung, die der Bevölkerung ein Nein empfohlen hatte? Mit einer anderen? Viel jedenfalls hat in Junckers Rede nicht mehr gefehlt bis zum Appell an die Griechen, sich eine neue Regierung zu suchen. Wie es nun praktisch weitergehen soll, lässt Juncker offen. Auch die Frage, was er von einem Euro-Gipfel der Staats- und Regierungschefs hält.

Es wäre dies auch zunächst eine Frage an Donald Tusk, den anderen Präsidenten, den des Rates. Am Montag geht es für dessen Leute denn erst einmal so weiter, wie das Wochenende geendet hatte. Mit Abwiegeln. Nein, ein Euro-Sondergipfel sei zunächst nicht geplant, lassen sie wissen. Der frühere polnische Ministerpräsident weiß, dass die Erwartungen an ihn hoch sind. Er weiß aber auch, wie groß der Widerwille der Staats- und Regierungschefs ist gegen ein erneutes Treffen - zumindest solange nicht klar ist, was dabei herauskommen kann.

Auf der einen Seite steht die Forderung von Tsipras, die Entscheidung der Finanzminister zu revidieren. Auf der anderen Seite steht die Front der Chefs, bei denen Tsipras mit der überraschenden Ankündigung eines Referendums den letzten Rest an Gesprächsbereitschaft aufgebraucht hat. Irgendwo dazwischen befindet sich Tusk im vollen Bewusstsein seiner historischen Verantwortung. "Griechenland ist & sollte Mitglied der Euro-Zone bleiben. In Kontakt mit den Führern der 19 Euro-Staaten, um die Integrität der Euro-Zone zu sichern", twitterte er am Sonntag.

Der Pole Tusk ist in einer schwierigen Lage. Er spürt Verantwortung für den Euro, wiewohl er selbst aus einem Land kommt, das den Euro bisher nicht eingeführt hat. Und er hat das Gefühl, dass er aktiv werden muss, sich nicht mit der Rolle des Moderators zufriedengeben kann, die sein Vorgänger Herman Van Rompuy so virtuos ausgefüllt hatte.

Eines hat Juncker dabei Tusk nun immerhin voraus: Er hat sein Signal gesetzt.

© SZ vom 30.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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