Flüchtlingspolitik:Die Grenzen der europäischen Abschottung

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Wer es über die Grenzzäune zwischen Marokko und der spanischen Exklave Melilla schafft, jubelt nach Ansicht spanischer Behörden zu früh. Diese bringen solche Zuwanderer oft ohne Verfahren wieder zurück über die Grenze. (Foto: Santi Palacios/AP)
  • In der EU greift vermehrt eine Logik der Abschottung um sich.
  • Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verhandelt diese Woche über sogenannte Pushbacks.
  • Damit ist die Praxis gemeint, Flüchtlinge zurückzuschieben, noch bevor sie europäischen Boden betreten haben und ihr Asylanliegen geprüft wurde.

Von Wolfgang Janisch, Karlsruhe

Mauern und Sperranlagen haben Konjunktur, und die Fantasie treibt seltsame Blüten. Neulich hat Griechenlands Verteidigungsministerium ein Projekt zur Errichtung einer schwimmenden Barriere in der Ägäis ausgeschrieben, um von der Türkei kommende Flüchtlinge aufzuhalten. Mag sein, dass man damit nur innenpolitisch Handlungsfähigkeit suggerieren wollte, aber der Plan zeigt: Längst geht es bei der oft beschworenen "Sicherung der EU-Außengrenzen" nicht mehr allein um möglichst effiziente Asylverfahren. Sondern zunehmend um die blanke Abwehr von Migranten.

An diesem Donnerstag entscheidet der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) über zwei Beschwerden, die vom "European Center for Constitutional Rights" unterstützt werden. Der Fall steht beispielhaft für die Logik der Abschottung. Es geht um sogenannte Pushbacks, also die Zurückschiebung von Flüchtlingen an oder vor der Grenze - wohlgemerkt, ohne dass vorher auch nur ansatzweise geprüft worden wäre, ob die Menschen Flüchtlingsschutz beanspruchen können.

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Geklagt haben zwei Flüchtlinge aus Mali und der Elfenbeinküste, ihnen fehlten nur ein paar Meter. Sie wollten die drei Sperrzäune zur spanischen Exklave Melilla im Norden Marokkos überwinden, wurden aber von der spanischen Grenzpolizei aufgegriffen und in Handschellen ins 20 Kilometer entfernte Nador gebracht. Niemand wollte auch nur ihre Papiere sehen. Das Argument der Spanier: Die Zäune befänden sich auf marokkanischem Territorium, die Leute hätten also das rettende Areal nicht erreicht. Die Spanier haben das vermutlich selbst nicht geglaubt. Aber selbst für den Fall, dass die Flüchtlinge doch spanischen Boden betreten hätten, insistierten die Behörden, die Männer hätten allenfalls faktisch, aber keinesfalls juristisch das Reich der europäischen Menschenrechte betreten. Also kein Verfahren, kein Rechtsschutz, kein Asyl. "Devoluciones en caliente" heißt das auf Spanisch. Heiße Abschiebungen.

An Europas Rändern existieren diverse Varianten solcher Versuche, Flüchtlinge möglichst vor oder wenigstens an der Grenze abzufangen, weil man die Verfahren zum Flüchtlingsschutz gar nicht erst in Gang setzen möchte. Seit Jahren gibt es Berichte über Pushbacks über den Grenzfluss Evros von Griechenland in die Türkei. Laut Spiegel, der sich auf türkische Regierungsdokumente beruft, sollen von Oktober 2018 an innerhalb eines Jahres knapp 60 000 Migranten illegal von der griechischen Seite zurückgebracht worden sein. Kürzlich wurde dem Blatt ein Video zugespielt, das zeigen soll, wie maskierte Männer in militärisch anmutender Kleidung Gruppen von Menschen mit einem Schlauchboot über den Fluss bringen.

Auch in Osteuropa wird zurückgeschoben - von Ungarn nach Serbien und von Kroatien nach Bosnien-Herzegowina. Gelegentlich wird der Grenzverlauf flexibel gehandhabt, etwa auf dem Mittelmeer. Die Flüchtlingsorganisation Alarmphone wirft Malta vor, die Rettung eines Flüchtlingsbootes verzögert zu haben, obwohl es sich bereits in der maltesischen Such- und Rettungszone befunden habe. Von dort sei es von der libyschen Küstenwache nach Libyen zurückgebracht worden. Eher ein Pullback als ein Pushback, wenn man so will.

Verbot von Kollektivausweisungen

Der EGMR wird mit seinem Urteil aber längst nicht alle Spielarten der Abschottung erfassen. Die europäische Grenzschutzagentur Frontex, deren Befugnisse in den letzten Jahren dramatisch ausgeweitet wurden, agiert inzwischen - flexibel und smart - weit vor den Grenzen, bis tief in der Sahelzone. Dazu wird das Gericht dieses Mal nichts sagen können. Aber mindestens für den konkreten Fall schien die Rechtslage bisher klar zu sein. Im ersten Urteil in dieser Sache, das nun von der Großen Kammer überprüft wird, hatte das Gericht Spanien verurteilt. Die Pushbacks nach Marokko verletzten das Verbot von Kollektivausweisungen im vierten Zusatzprotokoll zur Menschenrechtskonvention, ebenso das Recht auf ein effektives Rechtsmittel. Und vor acht Jahren hatten die Richter entschieden, ein italienisches Schiff dürfe Flüchtlinge nicht einfach nach Libyen zurücktransportieren, ohne ihnen die Chance auf eine Prüfung ihres Flüchtlingsstatus zu geben.

Auch die jüngsten Urteile halten im Grunde an dieser Linie fest, wirken aber zögerlicher als früher. Pushbacks von Ungarn nach Serbien verletzten zwar die Konvention, weil die Behörden das Risiko einer Kettenabschiebung nicht geprüft hätten, entschied das Gericht im November. Aber die Quasi-Internierung der Flüchtlinge in den Transitzonen ließen die Richter durchgehen. Und 2018, im Fall einer Familie aus Tschetschenien, die an der litauischen Grenze immer und immer wieder ohne jegliche Asylprüfung weggeschickt wurde, war es ganz knapp: Drei von sieben Richtern fanden das in Ordnung.

Von einer historischen Warte aus betrachtet, steht sehr viel mehr auf dem Spiel als nur Detailfragen von Grenzverläufen. Jede pauschale Rückschiebeaktion ohne individuelle Prüfung birgt die Gefahr, gegen das Verbot des "Refoulement" zu verstoßen - die Abschiebung von Flüchtlingen in ein Land, in dem ihnen Folter, Verfolgung oder Tod droht. Dieses Refoulement-Verbot, niedergelegt auch in der UN-Flüchtlingskonvention von 1951, ist das Alpha und das Omega des Flüchtlingsrechts. Damit beginnt jeglicher Schutz - ohne das Verbot ist er nichts wert.

Als sich die Staaten seinerzeit darauf verständigten, war ihnen das eigene kollektive Versagen noch in frischer Erinnerung. Ein Versagen, das sich beklemmend in der Konferenz von Evian im Jahr 1938 manifestiert hatte, als die Staaten der Welt ausloten wollten, wie sie mit der wachsenden Zahl jüdischer Flüchtlinge aus Deutschland umgehen sollten. Die spätere israelische Ministerpräsidentin Golda Meir, damals als Beobachterin in Evian, schilderte das so: "Dazusitzen, in diesem wunderbaren Saal, zuzuhören, wie die Vertreter von 32 Staaten nacheinander aufstanden und erklärten, wie furchtbar gern sie eine größere Zahl Flüchtlinge aufnehmen würden und wie schrecklich leid es ihnen tue, dass sie das leider nicht tun könnten, war eine erschütternde Erfahrung. (...) Ich hatte Lust, aufzustehen und sie alle anzuschreien: Wisst ihr denn nicht, dass diese verdammten 'Zahlen' menschliche Wesen sind, Menschen, die den Rest ihres Lebens in Konzentrationslagern oder auf der Flucht rund um den Erdball verbringen müssen wie Aussätzige, wenn ihr sie nicht aufnehmt?"

Nazivergleiche verbieten sich, gewiss. Liest man aber die Berichte über die libyschen Lager, in die Flüchtlinge gebracht werden, wenn sie auf See abgefangen werden, dann fällt auf: Den Beobachtern fiel dazu oft kein anderes Wort ein als "Konzentrationslager".

Mit anderen Worten: Flüchtlingen die juristische Chance auf Schutz zu gewähren, wenn sie ihn wirklich benötigen, ihnen ein "Recht auf Rechte" einzuräumen - diese kühne Idee gehört zu Europas historischem Gewissen. Europa bringt sich in einen Widerspruch zu sich selbst, darauf hat vergangenes Jahr die Parlamentarische Versammlung des Europarats hingewiesen, jenes weit über die EU hinausreichenden Bündnisses von 47 Staaten. In einer Resolution heißt es, die Zurückschiebungen an Europas Grenzen seien zumindest in Teilen eine Konsequenz der Defizite der EU-Asylregeln "und des Fehlschlags beim Versuch, eine faire Verteilung der Verantwortung in Europa einzuführen".

© SZ vom 13.02.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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