Glosse:Das Streiflicht

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Die neue Leiterin der Berlinale, Tricia Tuttle, liebt es, bei Filmen zu weinen. Wenn das mal keine Superqualifikation ist!

(SZ) Eine der bedeutendsten Heulszenen der Literatur findet sich in Schillers "Don Carlos", und sie gewinnt noch dadurch, dass auf der Bühne gar nicht geweint, sondern dass das Weinen nur gemeldet wird. "Der König hat geweint", berichtet Graf Lerma, woraufhin alle "mit betretnem Erstaunen" fragend wiederholen: "Der König hat geweint?" Wie inszeniert man so etwas heutzutage? Mit welcher szenischen Erfindung ironisiert man die Tatsache, dass Philipp II. aus Enttäuschung über den Marquis Posa weint? Man könnte dem König einen Fernseher ins Kabinett stellen und "Casablanca" laufen lassen, vielleicht die Szene, in der Rick die Geliebte ziehen lässt und den "Beginn einer wunderbaren Freundschaft" mit Capitaine Renault beschwört. Das würde nicht nur Schillers Konzept unterlaufen, sondern auch des Königs Weinen aufs Alltägliche herunterbrechen: Wo, wenn nicht am Schluss von "Casablanca", darf ungenierter geweint werden?

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