Glosse:Das Streiflicht

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Im sächsischen Döbeln gibt es jetzt ein "Bockwurstland". Zeigt sich erst in dem, was mit dem schönen Wort "Freizeitverhalten" beschrieben wird, das wahre Gesicht eines Landes?

(SZ) Für die journalistische Form des Livetickers entscheiden sich Redaktionen immer dann, wenn es gilt, eine sich dynamisch entwickelnde Lage abzubilden - und so viel Dynamik wie an diesem Samstag im mittelsächsischen Döbeln war wirklich selten. Anlässlich der Eröffnung eines Freizeitparks räumten die Kollegen der Sächsischen Zeitung den besten Platz ihrer Homepage frei, platzierten ebendort einen Ticker, und dann ging es in der Berichterstattung auch schon Schlag auf Schlag: "08.44 Uhr: Familie aus Bernburg ist bereits Freitagabend angereist ... 11.45 Uhr: Milkauer Schalmeien sorgen für musikalische Unterhaltung ... 12.27 Uhr: Senfrutsche geschlossen". Diese Senfrutsche übrigens, so war zu erfahren, ist eine "sechsspurige Wellenrutsche" und außerdem unverzichtbarer "Teil des Bockwurstlandes".

Nun ist die Bockwurstrepublik Deutschland auch außerhalb von Döbeln oft genug ein Tollhaus, jedenfalls immer freitags ab eins, denn da macht jeder seins - und von da an sind sie alle gezählt, die oft zähen Stunden unter der Woche, in denen es gilt, Ortsbeiratssitzungen durchzuhalten und Vereinsmeierei abzumeiern, in denen außerdem Kantinenspeisepläne akribisch studiert und Arbeitszeitkonten geführt werden. Diese Woche, sie ist mithin geprägt von Sozialzusammenhängen, in denen sich alle irgendwie zusammenreißen - bis dann aber dasselbe Deutschland verlässlich außer Rand und Band gerät und zu einem Woodstock für Wochenendausflügler wird. Und zeigt sich nicht erst in dem, was mit der stoisch-schönen Vokabel "Freizeitverhalten" beschrieben wird, das wahre Gesicht eines Landes? Dieses Gesicht ist hierzulande womöglich vom Alkohol etwas gezeichnet, davon abgesehen aber oft gar nicht so hässlich, wie es zuweilen beschrieben wird. Das Publikum drängelt sich bei Feuerwehrmeisterschaften oder der "Wattolümpiade", und jetzt drängelt es sich eben auch in Döbeln vor "Knollis Mais-Express". Manchmal ist der Andrang vor Ort sogar so groß, dass noch im regionalen Verkehrsfunk davon die Rede ist. Vor Jahren etwa kam man auf der A4 in Höhe Schorba zum Stehen. Nicht wegen eines Papstbesuches in Sulza oder eines Auftritts der Stones in Hetschburg, nein: Tausende folgten dem Ruf zum "Tag der offenen Baustelle" am Thüringer Jagdbergtunnel.

In Döbeln gibt der neue Freizeitpark nicht zuletzt Auskunft darüber, wie Land und Leute sich entwickelt haben. Kaum mehr als 20 Jahre ist es her, da schickte das Arbeitsamt im Osten noch Langzeitarbeitslose auf Übungsfelder, um sie dort Kieselsteine von Holzleisten auflesen zu lassen. Eine Lektion im Erdbeerpflücken sollte das sein. Und heute? Heute sitzen dieselben Leute im Bockwurstland auf einer lustigen Wellenrutsche - mag sein, dass es schon wieder abwärtsgeht, aber immerhin in sanften Schwüngen.

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