Der Schweizer Soziologe und Buchautor Jean Ziegler, 81, ist kein Mann der leisen Töne. Seinen Kampf gegen Armut, Unterdrückung und Hunger in der Welt führt er mit provokanten Thesen und drastischen Formulierungen. Die Bücher Zieglers heißen "Imperium der Schande", "Der Hass auf den Westen" oder "Wir lassen sie verhungern". Auch der Titel seines neuesten Werks lässt an Eindeutigkeit nicht zu wünschen übrig: "Ändere die Welt! Warum wir die kannibalische Weltordnung stürzen müssen". Während des G-7-Gipfels nimmt Ziegler, der von 2000 bis 2008 UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung war, am "Gipfel der Alternativen" teil.
SZ: Herr Ziegler, mindestens 150 Millionen Euro kostet das Treffen der G7-Staaten in Elmau. Bei vielen Menschen erzeugt das ein Gefühl des Unbehagens.
Jean Ziegler: Viele Menschen haben gar keine klaren politischen Vorstellungen. Aber sie sagen: Etwas stimmt nicht auf einem Planeten, auf dem alle fünf Sekunden ein Kind verhungert. In einer Welt, in der ein Prozent der Weltbevölkerung so viele Vermögenswerte besitzt wie die restlichen 99 Prozent. Da ist eine Unruhe. Schließlich hat jeder ein Gewissen.
Sie sind Teilnehmer auf dem Alternativgipfel. Nach dem gestrigen Tag haben sich zwei junge Männer im Gespräch darüber beschwert, dass solche Veranstaltungen meist nichts Neues brächten. Tatsächlich sind dort doch nur Menschen mit der gleichen Meinung, die sich diese Meinung nochmal vorerzählen.
Die Weltdiktatur des globalisierten Finanzkapitals ist total intransparent. Sie hat aber eine Legitimationstheorie, die sehr wirkungsvoll ist. Die besagt, dass Marktkräfte über das Schicksal entscheiden. Deshalb hat auch in der Demokratie die Entfremdung unglaubliche Fortschritte gemacht. Und jetzt glauben einzelne Menschen an ihre Ohnmacht. Aber es gibt keine Ohnmacht in der Demokratie. Auch nicht in Deutschland. Dafür stehen diese beiden. Für diesen Kampf. Die haben es begriffen. Aber es geht um die große Mehrheit, der man helfen muss, den Feind zu erkennen.
Aber machen Sie es sich nicht zu einfach, wenn Sie die G7 allein für die Probleme der Welt verantwortlich machen: für Krieg und Hunger, für soziale Ungleichheit und den Islamischen Staat?
Es geht nicht um Gut und Böse. Es geht um strukturelle Gewalt. Peter Brabeck-Letmathe, Chef von Nestlé, dem größten Nahrungsmittelkonzern der Welt, ist ein hochanständiger Mann. Aber seine Motivationsstruktur ist total uninteressant. Wenn der nämlich nicht die Kapitalrendite des Unternehmens jedes Jahr um 20 oder 30 Prozent heraufjagt, dann ist der weg. Der ist ein Sklave der Struktur. Und das gilt auch für die anderen Großkonzerne, für Bayer, für BMW, für die Deutsche Bank für Goldman Sachs.
Aber Sie sind doch ein Moralist, Herr Ziegler.
Nein. Es geht nicht um Moral. Natürlich, die Konsequenzen der neoliberalen Wahnidee sind mörderisch. Menschen sterben. Nicht virtuell, sondern tatsächlich. 57 000 pro Tag. Punkt. Aber die moralische Weltsicht ist falsch. Es geht um die strukturelle Gewalt, die gebrochen werden muss. Die macht Brabeck-Letmathe zum Erfüllungsgehilfen eines mörderischen Unternehmens.
Das glauben sie wirklich?
Man darf nicht denken, wir da oben und die da unten. Das wäre idealistisch. Ich hasse Idealisten. Es geht um Profitmaximalisierung. Das ist die einzige Struktur, die für den Gegner gilt.
Und Sie glauben, das wird sich in absehbarer Zeit ändern?
Armageddon, die letzte Schlacht, die steht bevor. Wenn das transatlantische Handelsabkommen TTIP durchkommt, dann ist es vorbei mit der Demokratie. Es gibt keinen Grund, warum die Demokratie in Europa, dieser kleinen, Asien vorgelagerten Insel mit einer unglaublichen Geschichte, dass die Demokratie hier ewig ist.
Gibt es Fakten, die für diese These sprechen?
Dass Kinder verhungern, das war in den vergangenen Jahrzehnten immer weit weg. Jenseits der Meere. Jetzt sagt Unicef, dass 11,8 Prozent der Kinder unter zehn Jahren in Spanien permanent unterernährt sind. In Spanien! Das ist der Dschungel, und der Dschungel schreitet auf Europa fort.
Aber warum gegen die G7 demonstrieren? In diesen Ländern herrscht Demokratie, die Menschen sind frei. Deshalb wollen so viele Flüchtlinge nach Europa. Sollte man nicht gegen Diktatoren und Unrechtsregime protestieren?
Sie fragen, warum man nicht nach Syrien, nach Damaskus geht zum Demonstrieren? Da wären Sie doch tot!
Man kann auch hier gegen Assad demonstrieren.
Man muss hier dafür demonstrieren, dass die Uno endlich in Syrien interveniert. Aber hier gegen Assad zu demonstrieren hat keinen Sinn.
Sind die G7 wirklich die richtigen Adressaten ihrer Kritik?
Ach, die G7. Was die tun, ist uninteressant. Von dem, was in Heiligendamm im Jahr 2007 beschlossen wurde, wurde nichts umgesetzt. Die G7, das sind nur die Befehlsempfänger und ihre Befehle bekommen sie von den Konzernen.
Aber Flüchtlingspolitik, Klimawandel, Verschmutzung der Meere, Ebola, Antibiotikaresistenz, das sind die Themen des G-7-Treffens.
Diese Themen sind zentral. Aber in Elmau wird nur ein Marionettentheater aufgeführt. Man muss natürlich aufpassen: Die demokratische Legitimität von Merkel und Obama steht nicht in Frage. Das sind keine Usurpatoren, die wurden gewählt. Das Problem ist die simulative Demokratie. Die baut eine Kulisse auf, die zeigen soll: Hier treffen sich die mächtigsten Staaten. Doch die Macht ist bei den Konzernen.
Politik und Wirtschaft reagieren aufeinander, sie reden miteinander. Warum sollten sie das nicht?
Klar, die reden miteinander. Auch über Veränderung. Aber nur an der Oberfläche. An den Strukturen verändern die nichts. Zum Beispiel bei den Medikamentenpreisen. Guinea, Sierra Leone und Liberia wurden in fürchterlichster Weise von Ebola heimgesucht. Das liegt daran, dass es dort keine primäre Gesundheitsversorgung gibt. Keine Antibiotika. Nichts. Wegen der extremen Überschuldung, der Verarmung, der Ausbeutung. Merkel und Obama müssten sagen: Das Recht auf Gesundheit wird durchgesetzt. Die Medikamentenpreise müssten normativ gesenkt werden.
Aber ist das nicht unrealistisch? Wie sollen in einer globalisierten Welt einzelne Länder ihren Kapitalmarkt reformieren, arme Länder entschulden? Diese Länder wären doch im internationalen Vergleich dann die Dummen.
Wenn Deutschland sich dazu durchringt, dann muss sich das wie ein Buschfeuer ausbreiten. Natürlich wäre es naiv zu sagen, wir wollen die Totalentschuldung der 50 ärmsten Länder der Welt. Trotzdem sehe ich, dass die Mobilisierung der Öffentlichkeit groß ist. Die Vernetzung, ist so hilfreich für den Aufstand des Gewissens. Die Solidaritätsbewegung wächst rasend schnell.
Aber es verändert sich nichts.
Die Herrschaftsideologie ist ein absolut homogenes Konstrukt. Das sind keine Trottel, die das propagieren. Aber sie liegen falsch. Denn es gibt nur ein Subjekt der Geschichte. Das ist der Mensch. Kollektiv und individuell. Es gibt keine überdeterminierte neue Ordnung. Der Neoliberalismus ist nichts als neuer Obskurantismus.
Wenn Sie jetzt behaupten, die letzte Schlacht stehe bevor - ist das nicht eine Strategie, um Ihre Bücher zu verkaufen? Es hat sich doch nichts getan in den letzten Jahrzehnten.
Es hat sich viel getan. Es gibt unglaubliche Fortschritte. Schauen Sie sich die Zivilgesellschaft an: was da passiert an Bewusstseinsbildung. Früher wurden unsere Positionen von kaum jemandem vertreten. Gott hat keine anderen Hände als die unseren, hat der französische Schriftsteller Georges Bernanos gesagt. Wir müssen diese kannibalische Weltordnung beenden, sonst tut es keiner.
Sehr pathetisch.
Nein, das ist nicht pathetisch. Ich hasse Moral.
Sie übertreiben.
Wie kann man da übertreiben? Das tägliche Massaker des Hungers ist belegt. Die Sachlage ist unbestreitbar. Ich sehe nicht, wo man übertreiben kann. Vielleicht bei der Fähigkeit zum Aufstand, die ich den Menschen zuschreibe. Vielleicht habe ich ein zu positives Menschenbild. Aber es gibt eine Revolutionsgeschichte. Nie erträgt der Mensch seine Ketten.
Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf.
Das anthropologische Zerrbild des Menschen, der seine Ketten mit Freude trägt, ist falsch. Wir stehen an der Schwelle zum Aufstand. Das kann sehr schnell gehen.