Gesellschaft:Wider die Vorurteile

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Karola Fings befasst sich mit der größten, aber auch der unbeliebtesten Minderheit in Europa - den Sinti und Roma. Sie begegnet der verbreiteten Unkenntnis mit einer wissenschaftlich fundierten, gut lesbaren Darstellung.

Von Wolfgang Benz

Sinti und Roma, lange Zeit mit der Fremdbezeichnung "Zigeuner" stigmatisiert, sind seit Jahrhunderten die größte, aber auch unbeliebteste Minderheit Europas. Von der Kriminalbiologie des 19. Jahrhunderts, die Repressionsgründe lieferte, führte der Weg zur nationalsozialistischen Verfolgung. Aus der Überzeugung, es existiere eine "Zigeunerplage", wurden im 19. Jahrhundert rigide Aufenthaltsbeschränkungen und Kontrollen verfügt. Die Verweigerung des Wohnrechts machte die Gruppe zu Nomaden, damit bestätigte sich das Vorurteil der Nichtsesshaftigkeit aus angeblich genetisch ("rassisch") angelegtem Freiheitsdrang. Gleichzeitig blieben die "Zigeuner" durch die Ausgrenzung aus der mehrheitlich-bürgerlichen Lebenswelt auf traditionelle Erwerbsformen wie den Hausierhandel, das Musizieren, den Bau von Musikinstrumenten, den Handel mit Schrott oder Antiquitäten oder die Schaustellerei fixiert.

Karola Fings begegnet der verbreiteten Unkenntnis über Sinti und Roma mit einer ebenso knappen wie inhaltsschweren, wissenschaftlich fundierten wie gut lesbaren Darstellung. Im Kapitel "Mehrheit und Minderheit" sind Definitionen und Erklärungen geboten, mit Fakten werden gängige Mutmaßungen, Ressentiments und Zuschreibungen, die das Bild der Minderheit bestimmen, entkräftet. Der Leser erhält Informationen über Sprache und Kultur, Herkunft und Vielfalt der Volksgruppe Sinti und Roma. Die Mythen vom Nomadentum und der "Zigeunermusik" werden entzaubert und die fatale Sicht der Tsiganologen, der Zigeunerversteher, wird entlarvt: Bildbände und Reportagen, die die romantischen Klischees einer angeblichen Zigeunerfolklore transportieren, die Armut, Elend, Kriminalität und Unzivilisierbarkeit den Roma als wesenhaft zudiktieren, die gleichzeitig um Verständnis für diese Eigenschaften werben und damit Zerrbilder verstetigen.

Die lasziv lockende junge Zigeunerin, die wahrsagende Hexe, der stolze Musikant und Rosstäuscher, die zum Stehlen dressierten Kinder bestimmen das Bild, das sich die Mehrheit von der Minderheit macht. Dem stellt die Autorin in klar strukturierter Präzision die Realität gegenüber.

Ein Kapitel ist der Herkunft und Geschichte der Sinti und Roma seit dem Mittelalter gewidmet. Roma waren leibeigen oder vogelfrei, sie unterlagen Aufenthaltsverboten, waren wie Juden, Gauner, Bettler und Vaganten Objekte diskriminierender obrigkeitlicher Gewalt. Der in Mitteleuropa üblichen Praxis der Vertreibung und der Strafen folgte im Zeichen der Aufklärung im Habsburger Reich die von Maria Theresia betriebene Zwangsassimilation, während im zaristischen Russland die Politik auf Integration in den Untertanenverband - mit positiven sozialen und ökonomischen Folgen - setzte.

Im NS-Staat wurden die "Zigeuner" systematisch ermordet

Die Doktrin des modernen Rassismus von der Ungleichwertigkeit der Menschen machte im 19. Jahrhundert mit Wirkungen bis zur Gegenwart alle Lösungsversuche der sozialen und ökonomischen Probleme der Sinti und Roma zunichte. Die Rassenlehre, die auch den Antisemitismus hervorbrachte, ließ wie in der "Judenfrage" auch zur Beseitigung der "Zigeunerplage" nur noch eine Option zu: existenzielle Gewalt durch Vertreibung und Ermordung anstelle von Integrationsangeboten. Dem Völkermord an Sinti und Roma unter NS-Ideologie ist der notwendige Raum zugemessen, ebenso dessen Folgen und den Perspektiven der Roma in Europa, deren Bürgerrechtsbewegungen und dem Minderheitenschutz, aber auch der Hysterie angesichts von Roma-Zuwanderern aus Südosteuropa. Karola Fings besticht durch Kenntnis und Sachlichkeit, das Buch zerstört Legenden, hält aber ebenso Distanz zum Oktroi emotionaler Zuwendung, der ausschließlichen Methode vieler Aktivisten. Das schmale Buch ist hervorragend geeignet, die Indolenz gegenüber der Minderheit zu überwinden.

Karola Fings : Sinti und Roma. Geschichte einer Minderheit. Verlag C.H. Beck München 2016, 128 Seiten, 8,95 Euro.

© SZ vom 19.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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