Gesellschaft:Vorteil Volksvernetzung

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David Van Reybrouck plädiert in seinem Buch für einen positiven Populismus und gegen eine "Diplomdemokratie". Gleichzeitig versucht er die Frage zu beantworten, warum sich Menschen zu radikalen politischen Strömungen hingezogen fühlen.

Von Dorion Weickmann

Was die Sozialmischung der Mandatsträger unter der Reichstagskuppel betrifft, gibt es nichts zu deuteln: "Der Bundestag repräsentiert ohne Zweifel nicht die Bevölkerungsstruktur Deutschlands." So formulierte es 2013 der SPD-Parlamentarier und Politikwissenschaftler Rolf Mützenich. Sein Forschungskollege Armin Schäfer sprach vom "Akademikerparlament", denn: "Arbeiter sind im Bundestag deutlich unterrepräsentiert."

Andere Geokoordinaten, gleiche Lage: Der belgische Historiker David Van Reybrouck diagnostiziert für seine Heimat und die benachbarten Niederlande eine "Diplomdemokratie", in der Geringqualifizierte den Kürzeren ziehen, obwohl sie die Mehrheit der Bevölkerung stellen. Deshalb, so Van Reybrouck, prosperiert der "dunkle Populismus", machen Demagogen mit Ressentiments Wahlkampf - und irgendwann Politik.

Dagegen macht sich sein schmales, im Original bereits 2008 erschienenes Plädoyer "Für einen anderen Populismus" stark. Die Analyse des Istzustands wiederholt allerdings nur sattsam Bekanntes. Demnach wirkt sich die Asymmetrie der Bildungschancen auf Lebens- und Berufswege aus und zeichnet indirekt vor, ob jemand den Sprung in eine Volksvertretung wagt oder nicht. Generell wachsen die Unterschiede, polarisieren weltanschauliche und kulturelle Differenzen die ganze Gesellschaft. Allerdings sitzt der Autor bisweilen genau den Klischees auf, die er andernorts kritisiert. So wenn er Reisegewohnheiten und Schichtzugehörigkeit kurzschließt: Gutverdiener bevorzugen den Abenteuertrip, Minderbemittelte das All-inclusive-Pauschalpaket. Wenn dem so wäre, hätten die mittelmeerischen Luxusressorts ein Problem, und die Campingplätze am Ostseestrand auch.

Warum schlagen sich Menschen ins radikale Lager?

Reizvoll argumentiert Van Reybrouck, sobald er die Ebene der Symptome verlässt und die Ursachen einkreist: Warum, lautet die entscheidende Frage, schlagen sich Leute überhaupt ins radikale Lager? Weil sie Angst haben, in der politischen Klasse und im Parlamentsbetrieb aber niemanden finden, der ihre Lebenswirklichkeit teilt und ihnen Aufmerksamkeit statt Affektzensur entgegenbringt. Das ist zwar auch keine brandneue Erkenntnis, aber Van Reybrouck verpackt sie prägnant: "Populisten erkennen diese Angst an" - das ist ihr Schlüssel zum Erfolg.

Indes treiben sie meistens Schindluder mit der Angst und schüren sie noch weiter. Dafür müssen die Zündler natürlich die Rote Karte kriegen, nicht aber ihre Klientel. Stattdessen wirbt Van Reybrouck für einen positiv gewendeten, einen aufgeklärten Populismus: Volksvernetzung statt Volksverhetzung sozusagen. Wer wäre dafür besser geeignet als die guten alten Volksparteien?

© SZ vom 25.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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