Freihandelsvertrag:Im Zeichen des Wittlings

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"Wenn man die Welt von Moskau aus sieht, muss man kein Putin sein, um einen Beitritt der Ukraine zur EU und Nato abzulehnen." - Der Brexit aus Sicht des Künstlers Banksy in einem Wandgemälde in Dover. (Foto: Glyn Kirk/AFP)

Wie die Einigung zwischen Brüssel und London zustande kam - und woran sie fast gescheitert wäre.

Von Björn Finke und Matthias Kolb, Brüssel

Es ist der umfangreichste Handelsvertrag, den die EU jemals abgeschlossen hat. Die 1298 Seiten werden verhindern, dass zum Jahreswechsel Zölle für Geschäfte mit dem wichtigen Nachbarn Großbritannien eingeführt werden. Der ganze harte Bruch wurde abgewendet, immerhin. Und doch hätte dieses Handels- und Kooperationsabkommen an einem wirtschaftlich ziemlich unbedeutenden Detail scheitern können: dem Streit um Fangquoten in den fischreichen britischen Gewässern. Noch wenige Stunden, bevor die Einigung verkündet wurde, sah es düster aus - ausgerechnet an Heiligabend. "Am Donnerstagmorgen standen wir mit nichts da. Die Stimmung im Stockwerk war deprimiert", sagt jemand, der anwesend war.

Dabei schien bereits einen Tag vorher, am Mittwoch, der Durchbruch in Sicht zu sein bei den zähen Verhandlungen zwischen EU und britischer Regierung: Nach quälend langsamen Fortschritten über Wochen hinweg war das Ziel zum Greifen nahe. Seit Montag hatte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen mehrmals mit dem britischen Premier Boris Johnson telefoniert, um bei den leidigen Fangquoten eine Lösung zu finden. "Von der Leyen wusste genau, was sie besonders betroffenen Regierungen wie der französischen und dänischen zumuten kann - und Johnson wusste, was er seinen Brexiteers zu Hause verkaufen kann", sagt ein EU-Diplomat rückblickend.

Am Dienstag zog der Verhandlertross nach ganz oben ins Berlaymont-Gebäude: in den 13. Stock der EU-Kommission, wo von der Leyen und ihr Kabinett ihre Büros haben. Dass dort "alle, auch die Briten, auf einer Etage zusammensaßen und die gleichen Croissants aßen", habe noch einmal für besondere Nähe gesorgt, sagt einer der Teilnehmer.

Am Mittwoch einigten sich von der Leyen und Johnson schließlich telefonisch, auf wie viel Fisch die EU-Trawler verzichten sollen. Über einen Zeitraum von fünfeinhalb Jahren sollen diese schrittweise ihre Fänge verringern: um ein Viertel des bisherigen Fangwerts von 650 Millionen Euro. Danach, genau zehn Jahre nach dem Brexit-Referendum von Sommer 2016, sollen Fangquoten in jährlichen Verhandlungen festgesetzt werden - so wie von Johnson gewünscht, damit das Königreich wieder ein "unabhängiger Küstenstaat" ist.

"Es ist Zeit, den Brexit hinter sich zu lassen": EU-Chefunterhändler Michel Barnier und Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nach der Einigung mit London. (Foto: Francisco Seco/REUTERS)

Einem Abkommen stand scheinbar nichts mehr im Wege, denn bereits am Wochenende hatte sich ein Kompromiss beim anderen großen Streitpunkt abgezeichnet, dem sogenannten Level Playing Field: Die EU wollte zollfreien Zugang zu ihrem Markt nur gewähren, wenn sich die britische Regierung verpflichtet, ihren Unternehmen keine unfairen Vorteile zu verschaffen - etwa durch üppige Subventionen oder das Absenken teurer Standards.

Allerdings steckte bei den Fangquoten der Teufel im Detail. Beide Seiten fingen an, die vereinbarte Kürzung um 25 Prozent auf Jahre, Fanggründe und Spezies herunterzubrechen: von A wie Alfonsino (auch bekannt als Glänzender Schleimkopf) bis W wie Wittling. Das war mühsam und langwierig. Und es stellte sich heraus, dass Brüssel und London unterschiedliche Berechnungsmethoden verwenden. Die britische Variante hätte zu spürbar herberen Einschnitten für die EU-Fischer geführt, heißt es aus der Kommission. Daher war die Einigung am Morgen des Heiligabends wieder hinfällig.

Schließlich gelang doch noch die Verständigung: um exakt 14.44 Uhr, wie sich ein Verhandler erinnert, der auf die Uhr geschaut hat. Nach Darstellung der Kommission lenkten die Briten ein und akzeptierten die EU-Methodik. Letztlich brauchte Johnson den Deal, den Zeitungen auf der Insel schon am Vorabend verkündet hatten, dringender als die anderen Europäer.

Eine ähnliche Botschaft hatte von der Leyen dem Premierminister bereits vermittelt, als dieser Mitte Dezember Brüssel besuchte. Dass das Abendessen im Berlaymont-Gebäude in ihrem Umfeld als "nicht angenehm" beschrieben wird, lag nicht an den servierten Gerichten wie Steinbutt und Jakobsmuscheln, sondern daran, dass die Deutsche Johnson dort klarmachte, dass die EU nicht einknicken werde.

Von der Leyen findet das Abkommen "fair und ausgewogen"

In der Pressekonferenz nach der Einigung am Heiligabend dankte von der Leyen nicht nur Chefverhandler Michel Barnier, sondern auch explizit einer anderen Person für ihre "unermüdlichen Anstrengungen, Ausdauer und Professionalität": Stéphanie Riso, früher Nummer zwei in der Brexit-Arbeitsgruppe hinter Barnier. Von der Leyen hatte die 44 Jahre alte Französin zur Vizechefin ihres Kabinetts gemacht - und schickte sie zuletzt als Verstärkung ins EU-Verhandlungsteam. Als ehemalige Stellvertreterin Barniers kennt Riso die Materie bestens und wusste, wie mit den Briten und deren Chefverhandler Lord David Frost umzugehen war. Die Sunday Times zitiert britische Regierungsvertreter mit Lob für Riso - und Kritik an Barnier, der auf der Insel trotz seiner Gentleman-Manieren umstritten blieb.

Als die Gespräche zum Level Playing Field, also zu fairen Wettbewerbsbedingungen, feststeckten, gelang es schließlich Riso, konsensfähige Ideen zu entwickeln. So verpflichtet der Vertrag nun beide Seiten auf gemeinsame Prinzipien zur Subventionspolitik. Missachtet London die Prinzipien und hat dies negative Folgen für europäische Firmen, kann Brüssel mit Strafzöllen zurückschlagen.

Die Briten garantieren auch, die existierenden Sozial- und Umweltstandards nicht abzusenken. Hebt eine Seite in Zukunft ihre Standards an, ist die andere Seite allerdings nicht verpflichtet nachzuziehen: Dieser Punkt war wichtig für London. Über die Jahre könnten solche Abweichungen dazu führen, dass Unternehmen in der EU mit teureren Vorgaben belastet werden als ihre Rivalen im Königreich - oder umgekehrt. Dann sind ebenfalls Strafzölle möglich. In solchen Streitfällen können beide Seiten Schlichter anrufen; eine Rolle für den Europäischen Gerichtshof ist hingegen nicht vorgesehen. Das wäre für die Briten indiskutabel gewesen.

Nach der Einigung sprach von der Leyen von einem "fairen und ausgewogenen" Abkommen. Und sie schloss ihre Rede mit einem Appell: "Es ist Zeit, den Brexit hinter sich zu lassen."

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