Gleich nach seiner Ankunft im Straßburger Europaparlament trifft Jorge Mario Bergoglio erst einmal eine 97 Jahre alte Bekannte. Helma Schmidt aus Boppard hatte den Argentinier 1985 mehrere Wochen in ihrem Haus wohnen lassen, am Küchentisch sollen Deutsch-Vokabeln gepaukt worden sein.
Wie gut das Lernen während der "zwei schönen Monate" vor fast drei Jahrzehnten dem heutigen Papst getan hat, zeigt sich wenig später im Plenum der Volksvertretung. Da verzichtet Franziskus auf Kopfhörer und hört den Begrüßungsworten des deutschen Parlamentspräsidenten Martin Schulz einfach so zu. Der Sozialdemokrat erwähnt unter anderem den Vertrauensverlust in die europäischen Institutionen, ein Stichwort, das Franziskus in seiner Rede aufnimmt.
Gleich zu Beginn seiner Rede kommt der Kopf der katholischen Kirche zum Kern: die Menschenwürde und Europa. Nach ein paar Sätzen, in der er das Bemühen der EU um die Menschenrechte würdigt, beginnt der Pontifex Dinge anzusprechen, die den Anwesenden mitunter sichtbar unangenehm waren:
- Europaskepsis: Das Misstrauen der europäischen Bürger gegenüber europäischen Institutionen, beklagt der Papst und vermisst Ideale. Man bekomme den "Gesamteindruck der Müdigkeit und Alterung" von diesem Europa, sagt er. Es sei die "Impression eines Europas, das Großmutter und nicht mehr fruchtbar und lebendig ist".
- Europas Ausrichtung: Der Papst kritisiert "egoistische Lebensstile", die durch "unhaltbaren Überfluss" und von Ignoranz Ärmeren gegenüber geprägt seien. Er vermisst die Solidarität der Bürger untereinander, spricht auch von "Wegwerf-Kultur" und "hemmungslosem Konsumismus". Der Papst ruft dazu auf, sich auf die humanistischen wie christlichen Wurzeln Europas zurückzubesinnen. Er warnt davor, Europa nach der Ökonomie auszurichten. Wörtlich sagt er: "Liebe Europaabgeordnete, die Stunde ist gekommen, gemeinsam das Europa aufzubauen, das sich nicht um die Wirtschaft dreht, sondern um die Heiligkeit der menschlichen Person, der unveräußerlichen Werte."
- Konsumgesellschaft: Der Papst kommt an einer anderen Stelle auf den Überfluss in der westlichen Welt zu sprechen und verweist auf die Nahrungsmittelnot in vielen südlichen Ländern. "Es ist nicht tolerierbar, dass Millionen von Menschen in der Welt den Hungertod sterben, während jeden Tag Tonnen von Lebensmitteln von unseren Tischen weggeworfen werden."
- Arbeitslosigkeit: Franziskus betont in seiner Ansprache, wie auch schon zu früheren Gelegenheiten, wie sehr Arbeitslosigkeit gerade junge Menschen frustiert. An die Regierenden hat das Oberhaupt der katholischen Kirche eine klare Forderung: "Es ist Zeit, die Beschäftigungspolitik zu fördern", sagt er. Wenn man den Arbeitsmarkt flexibilisiere, müsse gleichzeitig gesichert sein, dass die Arbeitnehmer nicht ausgebeutet werden können. Die Menschen müssen mit ihrem Einkommen eine Familie finanzieren können.
- Flüchtlingsproblematik: Der Pontifex verlangt, dass Flüchtlingsdramen wie vor der italienischen Küste verhindert werden. Das Mittelmeer dürfte nicht zu einem "großen Friedhof" werden. Er kritisiert "das Fehlen gegenseitiger Unterstützung" in der EU und fordert eine gesamteuropäische Kraftanstrengung. Mit Blick auf die kontrovers geführte Zuwanderungsdebatte sagt er, Europa wird imstande sein, die Rechte seiner Bürger zu schützen und gleichzeitig die Aufnahme von Migranten zu garantieren. Gleichzeitig müsse die EU dafür sorgen, Konflikte in den Herkunftsländern zu entschärfen, "anstatt Politik der Eigeninteressen zu betreiben, die diese Konflikte steigert und nährt".
- Umweltschutz: Der Papst lobt die Anstrengungen Europas, die Ökologie zu bewahren - für ihn ist es der Schutz von Gottes Schöpfung. An einer Stelle betont er seine Wertschätzung für "alternative Energiequellen".