In der Einwanderungsfrage hat Europa einen großen Sprung nach vorne gemacht ... mit Worten. Keine Hinweise mehr auf Quoten. Kein Wort darüber, wie die Migranten über den ganzen Kontinent verteilt werden sollen. Verschwunden - zumindest vom lexikalischen Standpunkt aus - ist die Vorstellung von der verbindlichen Solidarität zwischen den Mitgliedsstaaten (auch wenn die Schlussfolgerungen des Rats weiterhin die Pflicht der Mitgliedsstaaten betonen, Migranten aufzunehmen).
Hoffnung auf eine viel ehrgeizigere Vereinbarung
Scheinheiligkeit - oder sollte man sagen: Realpolitik? - hat diktiert, dass bestimmte Wörter, die als "unangebracht" erachtet werden, eliminiert werden sollten, um den unwilligeren Regierungen in der Union die bittere Pille zu versüßen und zu vermeiden, das Feuer der diversen Le Pens, Salvinis, Farages und Orbáns zu schüren.
Ja, es stimmt: Die 28 EU-Mitgliedsstaaten haben ihre Bereitschaft erklärt, einen Anteil der 40 000 Migranten aufzunehmen, die sich derzeit in Italien und Griechenland befinden. Aber allein die Türkei hat bereits über 1,5 Millionen (!) Flüchtlinge aufgenommen; der Libanon, mit einer Bevölkerung von nur 4,4 Millionen, beherbergt mehr als 1,1 Millionen Flüchtlinge (auf vier Libanesen kommt ein Flüchtling); und Jordanien hat schon über 600 000 Migranten im Land.
Es ist uns bewusst, dass selbst diese Vereinbarung nicht einfach war und das Ergebnis der gemeinsamen Bemühungen von Präsident Juncker, der Hohen Vertreterin Federica Mogherini und der italienischen Regierung ist. Dafür sind wir ihnen dankbar. Wir wissen, dass sie eine viel ehrgeizigere Vereinbarung erhofft hatten, und dass dies lediglich der erste Schritt ist.
Das letzte Ratstreffen kann nicht Europas Antwort auf die Migrationsfrage sein
Aber ganz ehrlich: Ist das ein Europa, auf das wir stolz sein können? Ein Europa, in welchem neue Mauern errichtet werden, während wir reden; in welchem Menschen an der Grenze zwischen Italien und Frankreich wie Vieh hin- und hergeschoben werden; in welchem Politiker stillschweigend zusehen, während verzweifelte Migranten sich auf die Lastwagen drängeln, die von Calais nach Großbritannien unterwegs sind. Ich glaube nicht.
Was beim letzten Ratstreffen herausgekommen ist, kann nicht Europas Antwort auf die Migrationsfrage sein. Die Wurzeln der Probleme liegen anderswo - in Libyen, in Afrika - und erfordern eine völlig andere, mutigere Vorgehensweise.
Doch in dieser Zeit der Ernüchterung über den europäischen Traum und der Rückkehr kleingeistiger Nationalismen haben unsere Staats- und Regierungschefs wieder einmal den Weg des verwässerten Kompromisses gewählt. Eine Lösung, die einerseits das Problem nicht löst und andererseits die Hoffnung auf ein einiges und auf Solidarität beruhendes Europa weiter untergräbt. Eine Lösung, die paradoxerweise den Gegnern Europas neue Munition gegen Brüssels Ineffizienz liefert.
Daher auch die Forderungen, die in der italienischen, französischen, spanischen, griechischen und britischen Presse immer stärker und öfter zu hören sind, die Union zu verlassen und die "Tyrannei der Bürokraten und der Banken" zu beenden. "Nieder mit den Eurokraten, nieder mit dem Stillstand durch widerstreitende nationale Interessen", rufen sie. Das klingt verlockend. Aber was dann?
Was geschieht am Tag danach? Oder ein Jahr, zwei, drei, fünf Jahre danach - wie werden Italien, Frankreich, Griechenland, Großbritannien oder Deutschland globale Probleme wie Einwanderung, Terrorismus, Chinas rasante Entwicklung oder Klimawandel alleine angehen?
Wer wagt es heute, über eine neue europäische Verfassung zu reden
Die Europäische Union abschaffen, den Traum von einem geeinten Europa zerstören - das mag für jene verlockend klingen, die einfache Lösungen suchen. Es mag sogar eine natürliche Reaktion auf das beschämende Schauspiel der letzten Wochen sein.
Die Lösung ist es aber nicht. Das ist nicht die Zukunft, die wir unseren Kindern hinterlassen wollen. Angesichts der zahlreichen existenziellen Bedrohungen, mit denen Europa heute konfrontiert ist - von Grexit und Brexit über ausländische Kämpfer bis hin zu Ungarns "Anti-Migranten-Mauer" -, besteht die Lösung darin, den europäischen Traum neuzubeleben.
Wer wagt es heute, über eine neue europäische Verfassung oder gar - Gott behüte! - von den Vereinigten Staaten Europas zu reden? Ein Traum? Vielleicht. Aber ist es nicht besser, für einen Traum zu kämpfen als eine Realität, die keine Zukunft bietet, passiv hinzunehmen?
In der Frage der Migrationsströme bedeutet dies konkret, die Dublin-Verordnung zu ändern; eine wirklich allumfassende gemeinsame Einwanderungspolitik für Europa zu schaffen, auf der Grundlage einer verbindlichen Solidarität zwischen den Mitgliedsstaaten und gemeinsamer Regeln in Bezug auf die Flüchtlings-, Asyl-, Kontroll- und Rückführungspolitiken; eine echte Politik der Entwicklung und der internationalen Zusammenarbeit in Afrika wieder in Gang zu setzen.
Unsere Gegner können diese Slogans wiederholen, so oft sie wollen
Papst Franziskus hat um Vergebung gebeten für diejenigen, die vor Einwanderern, die "weit weg von ihrer Heimat Schutz suchen", ihre Türen verschließen.
Wir sollten auch für jene um Vergebung bitten, die dem europäischen Traum Schande machen und die nächsten Generationen ihrer Zukunft berauben.
"Nieder mit der Tyrannei der Bürokraten und der Banken. Nieder mit den Eurokraten. Nieder mit dem Stillstand durch widerstreitende nationale Interessen". Unsere Gegner können diese Slogans wiederholen, so oft sie wollen, aber wir - diejenigen, die Europa lieben, die Sozialdemokraten - gehen nirgendwohin. Wir werden weiter für das Europa unserer Träume kämpfen.
Der Italienier Gianni Pittella ist Fraktionsvorsitzender der Sozialdemokraten im Europäischen Parlaments.