Flüchtlinge auf dem Balkan:Wartesaal der EU

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Sie haben den mühsamen Treck durch den Balkan geschafft: Flüchtlinge im österreichischen Spielfeld an der Grenze zu Slowenien. (Foto: AFP)
  • Ausgerechnet auf dem Westbalkan, selbst bis vor kurzem noch Krisenregion, soll nun die Flüchtlingskrise Europas gelöst werden.
  • Die Beziehungen der Länder untereinander haben schon Schaden genommen. Die Regierungen beschimpfen sich gegenseitig.

Von Nadia Pantel, Sarajevo

Das Problem der Westbalkan-Route beginnt schon bei ihrem Namen: Westbalkan. Wenn das der Westen ist, wo ist dann der Ostbalkan? Es gibt ihn nicht. Westbalkan ist kein geografischer, sondern ein politischer Begriff, der die Länder zusammenfasst, die früher Jugoslawien waren.

Albanien gibt es gratis dazu, Slowenien und Kroatien werden nur noch ungern "Balkan" genannt, spätestens seit sie in der EU sind. Westbalkan: Das bezeichnet eigentlich das Wartezimmer der Europäischen Union. Länder, deren Geschichte bis zum Ersticken ineinander verwoben und deren Zukunft völlig ungewiss ist.

Und hier, bei den Wartenden, für die es nicht einmal eine sinnvolle, gemeinsame Bezeichnung gibt, soll nun mit vereinten Kräften die größte Flüchtlingskrise gelöst werden, die Europa seit dem Zweiten Weltkrieg erlebt. Nach ein paar Monaten Zuschauen lässt sich vorsichtig zusammenfassen: Es läuft nicht besonders gut.

Gegenseitige Anwürfe

Die Beziehungen der Länder untereinander haben schon Schaden genommen. Im September rückte Serbiens Außenminister Ivica Dačić Kroatiens Politik in eine Kontinuitätslinie mit der Nazi-Zeit. Nachdem innerhalb von zehn Tagen gut 40 000 Flüchtlinge über Serbien nach Kroatien eingereist waren, schloss Kroatien seine Grenze. Und Dačić kommentierte: "In ihrer diskriminierenden Natur können diese Maßnahmen nur mit den Maßnahmen verglichen werden, die in der Vergangenheit das unabhängige, faschistische Kroatien anwendete." Die Kroaten ihrerseits behaupteten, Serbien habe ein geheimes Abkommen mit Ungarn und würde daher die Flüchtlinge nach Kroatien umleiten.

Neuer Teilnehmer im Beleidigungsreigen ist Slowenien. Regierungschef Miro Cerar sagte, die Kroaten seien "unsolidarisch und unfair", weil sie den Transport der Flüchtlinge nicht mit Slowenien absprächen. Seit vergangenem Wochenende sind laut Regierung mehr als 47 000 Menschen nach Slowenien eingereist. Meist über die grüne Grenze, die oft mehr schlammig als grün ist.

In der Nacht zum Mittwoch wateten Hunderte durch einen Fluss nach Slowenien. Die slowenische Polizei veröffentlichte Fotos, die belegen, dass kroatische Beamte den Flüchtlingen den Weg zum Fluss wiesen. Den Weg zu einer nahen Brücke zeigten sie, wie es scheint, nicht.

Der Mangel an Absprachen zwischen den Ländern ist nicht nur gefährlich für die Flüchtlinge, die alle hundert Kilometer erneut durch Niemandsland zwischen Staaten laufen, waten, rennen. Er ist auch gefährlich für die Bürger Serbiens, Kroatiens und Sloweniens.

Als der Marsch der Flüchtlinge über die serbisch-kroatische Grenze Mitte September begann, schreckte Europa auf: Da liegen noch Minen! Sie sind gerade 20 Jahre alt. Sie sind weniger ein Sicherheitsrisiko für Flüchtlinge, die ohnehin auf festen Straßen bleiben, sondern eine Erinnerung daran, wie frisch und brüchig der Frieden im Südosten Europas ist.

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Unter großen Mühen durchqueren die Flüchtlinge die Länders des einstigen Jugoslawiens. Immer mehr Menschen nehmen den Weg auf sich.

Im September hielten Aktivisten der Gruppe Youth Initiative for Human Rights in Belgrad und Zagreb Plakate hoch, auf denen stand: "Spielt nicht mit den Neunzigerjahren". Denn gerade der Ton zwischen der kroatischen und der serbischen Regierung erinnert zuweilen an Kriegsrhetorik. Vor allem für die serbische Minderheit in Kroatien ist die Politik wechselseitiger Pöbelei bedrohlich. Die kroatischen Serben sind angewiesen auf gute nachbarschaftliche Beziehungen.

Chaos, Schlamm und Streit

Der Streit über die Flüchtlinge ist nur die nächste Eskalationsstufe, nicht der Beginn der verstärkten serbisch-kroatischen Auseinandersetzungen. Als Kroatien im Sommer mit großem Pomp das 20-jährige Jubiläum der "Operation Sturm" feierte, war Belgrad nachhaltig verstimmt. Bei der militärischen Offensive im August 1995 löste Kroatien die serbische Republik auf kroatischem Boden auf, und 800 serbische Zivilisten wurden umgebracht.

Ob 20 Jahre schnell oder langsam vergehen, hängt an der Frage, ob es glückliche Jahre sind. Für viele Länder des ehemaligen Jugoslawien waren die vergangenen 20 Jahre nicht besonders glücklich. Außer, dass der Krieg ein Ende fand, ist wenig passiert.

Der erhoffte wirtschaftliche Aufschwung ist eher zu einem Dahinsiechen geraten. Dass Kroatien es schaffte, EU-Mitglied zu werden, ehe Serbien das gelang, hat die Beziehungen der Nachbarländer zusätzlich verschlechtert. Aber es scheitern in der EU bereits Länder mit historisch weniger belasteten Beziehungen daran, sich über den Umgang mit den immensen Flüchtlingszahlen zu einigen.

So entstehen auf dem Balkan Bilder, die den schlimmsten Klischees von "balkanischen Zuständen" entsprechen: Chaos, Schlamm und Streit. Nicht nur die Balkan-Länder müssen dagegen ankämpfen.

© SZ vom 24.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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