Flüchtlinge:Warum eine europäische Festungspolitik realitätsfern ist

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Verzweiflung an der Côte d'Azur: Eine Gruppe Flüchtlinge protestiert bei Ventimiglia gegen die Sperrung der italienisch-französischen Grenze (Foto: REUTERS)

Das Flüchtlingselend ist eine historische humanitäre Herausforderung - doch die Politik versagt. Wohlstand soll drinnen bleiben, die Not draußen. In Österreich wird sogar angeordnet, keine neuen Asylverfahren zu bearbeiten.

Von Heribert Prantl

Eine solche Aktion hat es in Deutschland noch nie gegeben: Es läuten die Kirchenglocken für die Flüchtlinge. Es wird dies kein triumphales Geläut sein, denn es gibt nichts zu feiern; es wird ein monumental-trauriges Geläut sein, denn es sind die Totenglocken, die läuten - darunter die Glocke Nummer eins des Kölner Doms, die gewaltigste Glocke der Christenheit.

Der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki lässt am Freitagabend von den Kirchtürmen seiner Diözese die Glocken tönen; für jeden toten Flüchtling im Mittelmeer ein Schlag - als Mahnung, als Zeichen, als Aufforderung an die Politiker, "einen legalen Weg für Flüchtlinge nach Europa" zu schaffen.

Diese Woche ist die richtige Woche zum Läuten: In Österreich hat die Innenministerin angeordnet, dass ihre Behörden keine neuen Asylverfahren, sondern nur noch Abschiebungen bearbeiten sollen.

An der italienisch-französischen Grenze kündigen verzweifelte Flüchtlinge an, ins Meer zu springen. Und in Deutschland treffen sich am Donnerstag die 16 Ministerpräsidenten mit der Kanzlerin zum "Flüchtlingsgipfel".

Am Samstag ist der Welttag der Flüchtlinge. Im Mittelmeer wird derweil weiter gestorben - weil es eben für Flüchtlinge und Migranten keinen legalen Weg nach Europa gibt: Wer kommen will, braucht ein Visum, aber Visa werden nicht ausgestellt; das ist die "Visumsperre". Wer auf dem Landweg kommen will, trifft auf einen Eisenzaun zwischen der Türkei und Griechenland; das ist die Landsperre. Bleibt der Weg übers Mittelmeer; er ist für viele Tausend Flüchtlinge der Weg in den Tod.

Viele EU-Regierungen träumen von der Festung Europa

Woelki will einen legalen Weg für die Flüchtlinge freiläuten, das Geläut soll sicheres Geleit erwirken. Da werden die Glocken des Erzbistums Köln nicht reichen; da müssten wohl alle Kirchen Europas zusammen läuten, stunden- und tagelang.

Das Flüchtlingselend ist eine historische humanitäre Herausforderung für die europäische Politik; aber diese Politik wimmelt ab, sie schwadroniert von militärischen Aktionen gegen die Schlepper, viele EU-Regierungen träumen von der Festung Europa, ohne daran zu denken, dass eine Festung ohne Zugbrücken verfällt und verrottet.

Wohlstand und Werte sollen - so denken die EU-Festungsfreunde - drinnen, die Not soll draußen bleiben. Die Festungsfreunde verkennen, dass es Werte nicht einfach gibt, sondern dass Werte nur dann etwas wert sind, wenn sie in der Not eingelöst werden.

Eine Festungspolitik ist mindestens so realitätsfern wie die Forderung nach Öffnung der Außengrenzen für alle. Warum? Die bedrohten Menschen kommen, weil die Not sie treibt.

So abschreckend kann EU-Abschreckungspolitik gar nicht sein, dass sie es mit den Schrecknissen aufnehmen könnte, vor denen Flüchtlinge fliehen. Ob der EU die Migration passt, ist nicht die Frage. Die Frage ist, wie man damit umgeht und sie gestaltet - rechtsstaatlich und human.

Die EU-Politik darf nicht Terror provozieren, indem sie militärisch interveniert und Kriegsschiffe zur Zerstörung von Booten schickt.

Die deutschen Politiker werden sich auf ihrem "Flüchtlingsgipfel", hoffentlich, damit befassen, wie man die Aufnahme der Flüchtlinge verbessern kann: Sie sind zügig in Privatwohnungen statt in Lagern unterzubringen, weil das die humanere und kostengünstigere Lösung ist.

Die Politiker werden sich, hoffentlich, damit befassen, das Angebot an Sprachkursen zu vergrößern und die Hilfen zur Vermittlung in den Arbeitsmarkt. Und die Politiker werden hoffentlich erkennen, wie viel Ehrgeiz, Mut, Talent und Kraft in den Leuten steckt, die bisher zur Katastrophe erklärt wurden.

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Aber bevor Flüchtlinge und Migranten eine neue Heimat finden können, müssen sie ihre Flucht überleben - das ist das Anliegen der Glockendemonstration. Flüchtlinge sind keine "Illegalen", sie werden von der derzeitigen EU-Politik illegalisiert.

Wie aber schafft man legale Wege? Die Regierungschefs und die EU müssen europaweit Flüchtlingskontingente festsetzen. Die EU-Staaten müssen sich darauf einigen, wer wie viele Flüchtlinge aus welchen Kriegsstaaten aufnimmt und nach welchen Kriterien und wie sie die Menschen aus Krisen- und Katastrophenstaaten schützen. Des Weiteren: Die Sperre des Landweges nach Europa muss aufgehoben werden.

Es geht um das Ende der Globalisierung der Gleichgültigkeit

Die Nachbarländer der Kriegs- und Krisenstaaten, in denen Flüchtlinge vorläufig Schutz gefunden haben, brauchen progressive Hilfe. In Libanon, dem kleinen Land mit 4,5 Millionen Einwohnern, leben 1,5 Millionen Flüchtlinge, darunter 400 000 im Schulalter.

Das schreit nach Hilfe, nach großzügigen Patenschaftsprogrammen. Die Kirchen können da ein Beispiel geben; denn Hilfe muss mehr sein als tönendes Erz. Es geht um das Ende der Globalisierung der Gleichgültigkeit.

© SZ vom 15.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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