Flüchtlinge auf dem Balkan:Auf der Strecke

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An einem Übergang von Mazedonien nach Serbien überrennen Flüchtlinge die Grenze. (Foto: Darko Vojinovic/AP)

180 000 Menschen sind 2015 über die Balkanroute nach Serbien gelangt. Viele werden dort von Polizisten geschlagen und ausgeraubt. Dabei wollen sie nur weiterziehen.

Von Florian Hassel, Miratovac

Hüseni Buyar, Bürger des Dorfes Miratovac im Süden Serbiens sieht von seinem Haus auf sanfte, dicht bewaldete Hügel, die Serbien von Mazedonien trennen. Miratovac ist keines der vielen armen Dörfer Serbiens. Dutzende neuer, großzügiger Häuser zeugen vom Wohlstand der Erbauer: Albaner, die in Deutschland oder in der Schweiz Geld verdienen und es im Heimatdorf in weiß oder rosa gestrichenen Beton investieren.

Hüsuni Buyar genießt hier himmlische Ruhe. Die Dorfstraße, die ins zwei Kilometer entfernte, in Mazedonien liegende Nachbardorf Lojane führte, ist seit Jugoslawiens Zerfall und dem Kosovo-Krieg gesperrt. Gelangweilte Grenzbeamte wachen, dass zwei rot-weiße Schlagbäume geschlossen bleiben. Mehrmals haben die Dorfbewohner, fast alle albanischstämmig, Serbiens Regierung aufgefordert, die Grenze und den direkten Weg zu ihren Verwandten in Lojane wieder zu öffnen. Vergeblich. "Wenn unsere Grenzpolizei nicht will, kommt nicht mal eine Maus über die Grenze", sagt Buyar.

Doch die dörfliche Verschlafenheit von Miratovac wird seit Monaten unterbrochen: Schon früh morgens ziehen Scharen erschöpfter Wanderer mit Taschen oder Rucksäcken über die Straße vor Buyars Haus. Manchmal kommen sie durch seinen Garten. Dann gibt er den Flüchtlingen aus Syrien, Afghanistan oder Sudan Wasser. Die serbischen Polizisten, die am Dorfausgang einen fünf mal zwei Meter kleinen, blau gestrichenen Wellblechcontainer ihr Revier nennen, sehen dabei zu.

Alle wollen eilig weiter zur ungarischen Grenze - ehe dort der Zaun fertig ist

Die Flucht nach Europa hat solche Dimensionen, dass die überforderten Griechen, Mazedonier, Serben und Ungarn ihre Grenzkontrollen weitgehend außer Kraft setzten. Mazedonien rief vergangenen Donnerstag den Ausnahmezustand aus und versperrte 4000 Flüchtlingen den Weg nach und durch Mazedonien, an der Grenze zu Griechenland erwarteten sie bewaffnete Polizisten. Schon am Samstagabend kapitulierte die Regierung vor dem Andrang, öffnete die Grenze wieder. Nun ziehen die Flüchtlinge wieder zu Tausenden per Bus, Zug oder Taxi nach Serbien.

In Miratovac und in der nahen Kleinstadt Presevo wurden in den vergangenen Wochen täglich im Schnitt 1000 neue Flüchtlinge registriert, sagt Mirjana Ivanoc-Milenkovski vom UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR in Belgrad. Am Sonntag und Montagmorgen waren es sogar mehr als 7000 Menschen - für die nächsten Tage erwartet Serbiens Regierung ähnlich viele. In Miratovac hat Serbien ein neues Aufnahmelager geöffnet; in Presevo können Flüchtlinge auf dem Gelände einer früheren Tabakfabrik in weißen Toiletten- und Waschcontainern duschen und waschen, Pause machen unter zwischen Pinien gespannten Tarnnetzen und in offenen Militärzelten.

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Auch eine bürokratische Blitzbehandlung gibt es: Schnellcheck beim Arzt, Aufnahme der Personalien bei Migrationsdienst und Grenzpolizei. Dann bekommen sie eine Bescheinigung als Asylbewerber. Doch von ihnen meldet sich kaum einer in einem serbischen Auffanglager. Fast alle Flüchtlinge reisen per Bus schnell weiter, nach Belgrad, dann zur ungarischen Grenze. Die Zeit drängt; Ungarn baut den gut 170 Kilometer langen Grenzzaun. Ende August sollte er fertig sein, jetzt "wird es wohl November", sagt ein Diplomat der SZ.

Schnell reist nur, wer Geld hat. Dschama Isa Abdullah Mohammed, 23, Somali, hat nur noch umgerechnet fünf Euro und drei Euro Guthaben auf dem Handy. Mohammed sitzt deshalb wochenlang fest im Belgrader Asylbewerber-Camp Krnjaca. In den 15 langen, weißen Baracken wurden vor gut zwei Jahrzehnten Flüchtlinge der Jugoslawienkriege untergebracht, einige leben noch hier.

Bis heute zählt Serbien mehr als 223 000 "interne Flüchtlinge" - Opfer der Kriege und Vertreibungen, die vor allem Serbien selbst in Bosnien, Kroatien oder dem Kosovo anzettelte nach dem Zerfall Jugoslawiens. Mit wechselndem Kriegsglück schlugen sie auf Serbien zurück. Fast 90 000 interne Flüchtlinge haben laut UNHCR keine Wohnung oder benötigen Unterstützung.

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"In guten Momenten bin ich besser als Ballack", sagt Mohammed

So weigert Belgrad sich, weitere Flüchtlinge in großer Zahl aufzunehmen, sondern tut alles, um sie schnell wieder zu verabschieden. Seit Januar kamen mehr als 180 000 Flüchtlinge - "eine Hälfte mit, die andere ohne formelle Registrierung als Asylbewerber", so Ivanoc-Milenkovski vom UNHCR. Fast alle fahren schnell nach Ungarn.

Pleite wie er ist, ist dies für Dschama Isa Abdullah Mohammed leichter gesagt als getan. Drei Mal schon wollte er sein Leben im kriegszerrütteten Somalia gegen ein besseres tauschen. Er saß wegen illegalem Grenzübertritt monatelang in saudischen und äthiopischen Gefängnissen. Sah seine Mutter bei einem Fluchtversuch ertrinken, erlebte vor einigen Monaten, wie sechs Mitreisende starben, als sie im übervollen Kleinbus durch die Sahara nach Libyen flohen. Menschenschmuggler brachten ihn per Schiff nach Griechenland; als er es durch Mazedonien nach Belgrad geschafft hatte, war sein Geld aufgebraucht.

An einem Übergang von Mazedonien nach Serbien überrennen Flüchtlinge die Grenze. (Foto: Darko Vojinovic/AP)

Vergeblich bat Mohammed Verwandte in England und Italien, Geld für den weiteren Weg zu kabeln. So hängt er im Lager Krnjaca fest. Schließlich bezahlte eine Somalierin den Schleppern seine Fluchtgebühr: Von Kanjiza im Norden Serbiens sollte Mohammed die Frau, die sich den Fuß gebrochen hatte, durch den Wald über die Grenze nach Ungarn tragen. Mohammed ist 1,90 Meter groß und als leidenschaftlicher Fußballspieler -"in guten Momenten bin ich besser als Ballack"- durchtrainiert.

So ungehindert Serbien Flüchtlinge aus Mazedonien meist ins Land und wieder hinaus lässt - ab und zu lässt Ministerpräsident Aleksandar Vučić Exempel statuieren. Damit er beteuern kann, er versuche, illegale Grenzübertritte zu unterbinden. Gerade als Mohammed und andere Flüchtlinge vor einigen Tagen an Ungarns Grenze kamen, fuhren Mannschaftsbusse mit serbischen Polizisten vor. Sie verhafteten die Flüchtlinge, brachten sie in ein nahes Gefängnis. Dort landen auch viele, die es schon nach Ungarn geschafft hatten.

Wie Kamal Homada, 30, aus Syrien, der in einer Augustnacht mit 15 weiteren Syrern über die Grenze nach Ungarn ging. Als sie in Szeged ein Taxi suchen, verhaftete sie die Polizei. Nach acht Tagen wurden Homada und Dutzende andere nach Serbien abgeschoben. Dort nahm sie die Polizei in Empfang. Human Rights Watch und Amnesty International zufolge berichten viele Flüchtlinge, dass serbische Polizisten und Grenzbeamte sie schlagen, erpressen, berauben.

Serbiens Innenministerium dementiert. Doch in der Grenzstadt Subotica kennen auch Pfarrer Tibor Varga und sein Sohn David solche Berichte: "Die Hälfte der Flüchtlingen, mit denen wir reden, erzählt, serbische Polizisten oder Grenzer hätten sie erpresst oder ausgeraubt", sagt David Varga, ehe er in einer alten Ziegelfabrik Brotlaibe an Flüchtlinge verteilt.

41 Euro Geldstrafe wegen des Grenzübertritts

Kamal Homada und die anderen zurückgeschickten Syrer hatten noch Glück. Die serbische Polizei nahm nur ihre Personalien auf - und händigte ihnen dann vorgefertigte Urteile aus: umgerechnet 41 Euro Geldstrafe wegen illegalen Grenzübertritts. "Wir haben nie einen Gerichtssaal gesehen, geschweige denn die Richterin, die das Urteil unterschrieben hat", sagt Homada, der sich in Kanjiza ausruht. "Die Polizisten sagten: Das Papier ist euer Weg in die Freiheit. Bezahlt ihr, könnt ihr bei uns Asyl beantragen. Oder ihr versucht euer Glück noch mal. Bei den Ungarn."

Das lassen sich die Syrer nicht zwei Mal sagen. Den Zaun, den die Ungarn an der Grenze bauen, hätten sie beim ersten Versuch einfach überklettert, schildern sie. "Es war noch kein Stacheldraht drauf. Wenn sich das ändert oder er unter Strom steht, graben wir uns drunter durch oder werfen einen Baum auf den Zaun", sagt Homada. Dann geht er los.

Dschama Isa Abdullah Mohammed, der somalische Fußballfan, wagt an diesem Tag den zweiten Fluchtversuch. Er gelingt. Wie, kann er nicht mitteilen. Aber er schickt eine SMS: "Bin in Österreich. Gruß Dschama."

© SZ vom 25.08.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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