Debatte um sichere Herkunftsstaaten:Was Menschen vom Balkan zur Flucht treibt

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Debatte um sichere Herkunftsstaaten: Die Jungen gehen fort, die Alten bleiben zurück: Szene aus einem Dorf in Albanien.

Die Jungen gehen fort, die Alten bleiben zurück: Szene aus einem Dorf in Albanien.

(Foto: G. Shkullaku/AFP)

In Albanien, Kosovo und Montenegro wird kaum jemand politisch verfolgt. Die Abwanderer haben meist andere Motive - Generationen alte Fehden etwa.

Von Florian Hassel und Nadia Pantel

Zehntausende Menschen kommen derzeit vom Balkan nach Deutschland und stellen Asylanträge - fast immer ohne Erfolg. Wie soll die Politik mit ihnen umgehen? Die Mehrheit der Menschen aus Südosteuropa sucht Arbeit und nicht Schutz vor Verfolgung. Die Union fordert deshalb, auch Albanien, Kosovo und Montenegro zu "sicheren Herkunftsstaaten" zu erklären. Die Asylverfahren würden dadurch etwas kürzer, Abschiebungen erleichtert. Die SPD-Spitze unterstützt dies. Doch wie sicher leben die Menschen in den drei Staaten wirklich? Eine Übersicht über die Verhältnisse dort:

Albanien: rechtsfreie Räume

Emigration ist für die Albaner nichts Neues. Als 1991 die kommunistische Diktatur endete, verließ ein Viertel der Bevölkerung das Land. Zuvor war Albanien in einem System der Paranoia und Unterdrückung zum isoliertesten Land Europas geworden. Zwischen 1945 und 1991 wurden mehr als 6000 Albaner aus politischen Gründen hingerichtet, Hunderttausende wurden verschleppt und interniert. Die traumatischen Erfahrungen der Diktaturzeit lähmen die albanische Zivilgesellschaft bis heute. Auch wenn die Wirtschaft des Landes einen Aufschwung nahm, leben laut Weltbank immer noch sieben Prozent der Albaner von monatlich weniger als 55 Euro. Offiziell sind fast 18 Prozent der Bevölkerung arbeitslos.

Im Juni 2014 wurde das Land zum EU-Beitritts-Kandidaten, seit September regiert Edi Rama mit der Sozialistischen Partei Albanien. Seitdem hat der Kampf gegen die organisierte Kriminalität und die extreme Unzuverlässigkeit des Justizsystems zwar an Schwung gewonnen, doch es gibt immer noch rechtsfreie Räume. In Albanien wird keine Minderheit politisch verfolgt. Allerdings scheitert der Staat immer wieder daran, seine Bürger zu schützen. So heißt es zwar von offizieller Seite, die Blutrache existiere nicht mehr. Doch tatsächlich sind nach wie vor Tausende Albaner von den Gesetzen des mittelalterlichen Gewohnheitsrechts "Kanun" bedroht. Der Kanun verpflichtet einerseits zu Gastfreundschaft und regelt Besitzverhältnisse, gleichzeitig sieht er jedoch auch das Recht auf Rache vor.

Menschenrechtsorganisationen schätzen, dass gut 1500 junge Männer in Albanien vom Tod bedroht sind, da ihre Familien in Generationen alte Fehden verstrickt sind. Das Komitee für Nationale Versöhnung in Albanien geht davon aus, dass seit 1991 etwa 10 000 Menschen durch Blutrache ums Leben kamen. Die Denktradition des Kanun erkennt zudem Frauen kaum Rechte zu. Fälle von häuslicher Gewalt werden in Albanien daher so gut wie nie zur Anzeige gebracht und den Frauen wird entsprechend wenig Schutz gewährt.

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