Europäischer Gerichtshof verhandelt über Vorratsdatenspeicherung:Grundrechte vor Gericht

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Als der Fragenkatalog des Europäischen Gerichtshofs im Bundesjustizministerium eintraf, waren sie elektrisiert. Schließlich stellen die Richter revolutionäre Fragen zur Vorratsdatenspeicherung. Ist alles erlaubt, wenn es um die Sicherheit geht? Wie verträgt sich das Horten von Daten mit den europäischen Grundrechten? Bei dem Prozess werden die Deutschen dennoch fehlen.

Von Wolfgang Janisch, Karlsruhe

Wenn der Europäische Gerichtshof (EuGH) an diesem Dienstag die Rechtssachen C-293/12 und C594/12 aufruft, dann werden die Vertreter Österreichs und Irlands sich von ihren Plätzen erheben. Aus ihren Ländern stammen die Klagen gegen die EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung, über die der EuGH verhandelt. Auch Spanier und Italiener, Franzosen und Briten, Polen und Portugiesen werden in Luxemburg vertreten sein. Nur die Deutschen sind nicht dabei. Was hätten sie dem EuGH auch sagen sollen? Dass Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) die Richtlinie von 2006 richtig findet? Dass Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) sie so hartnäckig wie erfolgreich blockiert hat? Deutschland wird also schweigen in Luxemburg - und äußerst gespannt auf das Urteil warten.

Vor allem im Bundesjustizministerium war man geradezu elektrisiert, als der Fragenkatalog des EuGH zur Anhörung eintraf. Er greift nicht nur viele heikle Punkte auf, die das Bundesverfassungsgericht dazu bewogen haben, die deutsche Umsetzung der Speicherpflicht für Telefon- und Internetverbindungsdaten im März 2010 zu beschränken. Die Fragen des EuGH gehen sogar darüber hinaus. Es sind Fragen, auf die kaum jemand aus den Reihen der zahlreichen Verteidiger der Richtlinie eine befriedigende Antwort wird geben können: Aufgrund welcher Daten ging der Gesetzgeber vom Nutzen der Vorratsspeicherung aus? Warum hielt er eine Mindestspeicherpflicht von sechs Monaten für erforderlich? Gibt es Statistiken, die eine verbesserte Verbrechensaufklärung seit Einführung der Richtlinie belegen?

Welche Antwort der EuGH in einigen Monaten geben wird, könnte aber auch davon geprägt sein, dass der EuGH mitten in einer Phase der Neuorientierung steckt. Denn der Grundrechtsschutz in Europa ist kompliziert geworden. Seit 2009 ist die EU-Grundrechtecharta verbindlich, also eine Art europäisches Grundgesetz, das dem EuGH die Interpretationshoheit und damit die Entscheidungsmacht verleiht. Zugleich aber wollen sich nationale Verfassungsgerichte - namentlich jenes in Karlsruhe - nicht ohne Weiteres vom Feld drängen lassen. Nicht zu vergessen der ehrgeizige Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Alles ist also in Bewegung. Weshalb, wer sich nicht regt, als Verlierer vom Platz gehen könnte.

Dem Gesetzgeber die Zähne zeigen

Der Luxemburger Gerichtshof hat im Frühjahr mit dem Urteil im Fall Åkerberg Fransson einen ersten Schritt getan: Er hat Anspruch auf eine sehr weitreichende Zuständigkeit bei der Anwendung der Grundrechtecharta angemeldet. Mit einer harschen Replik im Urteil zur Antiterrordatei hat das Bundesverfassungsgericht den EuGH postwendend in die Schranken gewiesen. Inzwischen ist zwar zu hören, dass der Konflikt auf der informellen Ebene halbwegs entschärft ist. Dennoch bleibt die Frage: Wenn der EuGH seinen Einflussbereich beim Grundrechtsschutz ausweiten will - muss er dann nicht irgendwann beweisen, dass er ein echtes Grundrechtsgericht ist? Dass er dem europäischen Gesetzgeber die Zähne zeigen kann?

Der Streit um die Vorratsdatenspeicherung könnte für den EuGH die passende Gelegenheit sein, den Ruf als ein Gericht abzustreifen, das fast immer pro Brüssel urteilt. Umso mehr, als der Datenschutz durch die Internet-Überwachungsaktivitäten der USA gerade eine atmosphärische Aufwertung erfahren hat. Eine zentrale Rolle spielt dabei - ein Deutscher. Thomas von Danwitz, seit 2006 Richter in Luxemburg und in der Gerichtshierarchie zum Kammerpräsidenten aufgerückt, ist der zuständige "Berichterstatter". Bereits seine Vita weist ihn als Europäer aus, nach dem Studium in Bonn und Genf ging er an die französische Elite-Hochschule ENA. Dass er in der französischen Sprache und Universitätswelt zu Hause ist, bringt ihm am EuGH einen nicht zu unterschätzenden Vorteil: Die internen Beratungen werden auf Französisch geführt.

Dass er 2006 von der Union nach Luxemburg entsandt worden war, sagt wenig über seine Haltung zu den Vorratsdaten aus. Entscheidender dürfte sein, in welcher Rolle er den EuGH künftig sieht. In seinen öffentlichen Äußerungen tritt von Danwitz für ein selbstbewusstes Agieren des Gerichtshofs ein, den er gegen Kritik aus Deutschland an der angeblich zu laschen Haltung des Gerichts in Schutz nimmt. Denkbar also, dass nun ein deutscher Richter den entscheidenden Schritt hin zu einem echten europäischen Verfassungsgericht auslöst.

© SZ vom 09.07.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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