Europa:Kommt ein Brief aus London

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Bewegung bei den Briten: Jede Woche treffen sich Vertreter Londons mit EU-Beamten. Ein Austritt Großbritanniens aus der Union soll verhindert werden. (Foto: Simon Dawson/Bloomberg)

Brüssel und die Hauptstädte der EU-Länder warten gespannt, was Premier Cameron fordern wird, um einen Brexit abzuwenden. Klar ist: Großbritannien will mehr mitreden in Europa.

Von D. Brössler, C. Gammelin und A. Mühlauer, Berlin/Brüssel

Wolfgang Schäuble und George Osborne verbindet einiges. Sie sind konservative Politiker, sie hüten die Finanzen ihrer Heimatländer, und ihnen eilt der Ruf voraus, sie hätten das Zeug zum Regierungschef. In Deutschland hat sich Bundesfinanzminister Schäuble durch seine harte Haltung in der Griechenlandkrise ins Gespräch gebracht. Und Osborne, der die Verhandlungen Großbritanniens über den Verbleib in der Europäischen Union führt, gilt schon deshalb als natürlicher Nachfolger von Premier David Cameron.

Am Montagabend trafen sich Osborne und Schäuble zu einem privaten Abendessen in einem Berliner Restaurant. Geredet wurde vertraulich. Für die Öffentlichkeit war dann am Dienstag die Botschaft deutscher Industrieller und der Bundesregierung. "Stay in", rief Ulrich Grillo, oberster Lobbyist der deutschen Wirtschaft, dem Briten entgegen. Die Formulierung übernehme sie gerne, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel. Und: "Wir werden unseren Beitrag leisten, den wir leisten können." Was ähnlich vage klang wie die Bedingung für den Verbleib in der EU, die Osborne später formulierte: "Wir wollen, dass Großbritannien in einer besseren, einer reformierten EU bleibt."

In Brüssel hat die EU-Kommission bereits ein recht klares Bild davon, was die Regierung in London verlangen wird, um im Brexit-Referendum zu bestehen, also bei der Volksabstimmung über Austritt oder Verbleib Großbritanniens in der EU. Die Gespräche wurden zuletzt intensiviert, einmal die Woche treffen sich Vertreter aus London mit EU-Beamten in Brüssel. Fünf bis sechs Stunden sitzen sie zusammen und wägen ab, was geht und was nicht.

Nichts fürchten die Briten mehr als eine Benachteiligung ihrer Banken und Unternehmen

In Kürze wird ein Brief aus London in Brüssel und den EU-Hauptstädten erwartet, in dem die britischen Forderungen erstmals festgehalten sind. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker soll Cameron beim Frühstück allerdings einen Rat gegeben haben, erzählt ein EU-Diplomat. Er solle so lange wie möglich nicht zu konkret werden. In Brüssel rechnet man mit vier Kernbereichen, aus denen sich die Forderungen Londons ergeben. Erstens: die Beziehung zwischen Euro-Staaten und Nicht-Euro-Staaten, zweitens: Wettbewerbsfragen, drittens: soziale Sicherung von Zuwanderern aus der EU und viertens: nationale Souveränität in der EU.

Im Pfund-Land Großbritannien beäugen die Politiker die Macht der Euro-Staaten schon lange mit Skepsis. Einerseits sind sie froh, dass sie nicht Mitglied der Währungsunion sind; andererseits wären sie gerne stärker in Entscheidungen der Euro-Gruppe eingebunden. Um zu verhindern, dass Großbritannien bei Beschlüssen im Europäischen Rat von Euro-Mitgliedstaaten überstimmt wird, verlangt London eine Art Notbremse. Diese basiert auf dem Ioannina-Kompromiss aus dem Jahr 1994, als es um die EU-Beitritte von Finnland, Österreich und Schweden ging. Damals erhöhte sich die Stimmenzahl im Europäischen Rat von 54 auf 87. Die Sperrminorität sollte entsprechend von 23 auf 26 Stimmen steigen. Doch einige Mitgliedsländer, darunter Großbritannien, sahen darin eine Beschneidung ihres Einflusses und verlangten, dass die Sperrminorität bei 23 Stimmen bleibt. Beim Ratstreffen im März 1994 in Ioannina auf Korfu fanden die Chefs einen Kompromiss: Wenn sich bei einem Beschluss mit qualifizierter Mehrheit 23 bis 25 Nein-Stimmen melden, wird weiterverhandelt - bis ein einvernehmliches Ergebnis erzielt wird.

Übertragen auf die Brexit-Debatte, könnten Nicht-Euro-Staaten auf diese Art Abstimmungen verzögern, wenn etwa Fragen des europäischen Binnenmarkts berührt werden. Denn nichts fürchten die Briten mehr als eine Benachteiligung ihres wichtigsten Wirtschaftszweiges: Banken und Kapitalmarkt-Unternehmen dürften nicht diskriminiert werden, weil sie in London sitzen, nicht Teil der Euro-Zone sind und damit nicht an Entscheidungen der Europäischen Zentralbank gebunden sind. London ist es wichtig, dass die EU als Gemeinschaft mit mehreren Währungen gesehen wird. Es will eine klare Zusage, dass Nicht-Euro-Staaten nicht an Kosten beteiligt werden, die die Euro-Zone betreffen.

Cameron will Arbeitsmigranten aus der EU den Zugang zu Sozialleistungen erschweren

Wenn Cameron mit den Ergebnissen seiner Verhandlungen vor die Bürger tritt, dürfte aber ein anderes Thema mehr Emotionen auslösen. Cameron will Arbeitsmigranten aus der EU den Zugang zu Sozialleistungen in Großbritannien erschweren. Selbst solche, die Arbeit gefunden haben, sollen womöglich erst nach vier Jahren Anspruch auf solche Leistungen erwerben. Zwar hat der Europäische Gerichtshof in mehreren Urteilen klargestellt, dass Bürger aus anderen EU-Ländern unter bestimmten Bedingungen von Sozialleistungen ausgeschlossen werden können - die weitgehenden Pläne der Briten aber sind mit EU-Recht kaum vereinbar. Gesucht wird ein Kompromiss, der rechtlich haltbar ist, von Auswandererländern wie Polen akzeptiert und den Briten trotzdem noch als Erfolg verkauft werden kann.

Mit besonderem Unbehagen werden in Brüssel und den nationalen Hauptstädten überdies jene britischen Pläne gesehen, die eine Änderung der europäischen Verträge erfordern. Vertragsänderungen sind zeitaufwendig und brauchen die Zustimmung aller Mitgliedstaaten. Aussichtslos wäre es, das Verfahren vor dem britischen Referendum zum Erfolg zu führen. Die Londoner Regierung müsste sich folglich mit Ankündigungen zufrieden geben - oder damit, Vertragsänderungen zu umgehen. Die Frage ist vor allem, ob Cameron bei seinem grundsätzlichsten Anliegen dazu bereit sein wird. Er will Großbritannien vom vertraglichen Ziel einer "immer engeren Union der Völker" entbinden. Schon im Juni 2014 waren die Staats- und Regierungschefs in einem Gipfelbeschluss Cameron mit der Formulierung entgegengekommen, dass "das Konzept einer immer engeren Union für verschiedene Länder mehrere Wege der Integration zulässt und es denen, die eine stärkere Integration wollen, ermöglicht, weiter voranzugehen, wobei gleichzeitig die Wünsche derjenigen, die keine weitere Vertiefung möchten, zu achten sind". Cameron wird entscheiden müssen, ob ihm das reicht.

Bis März 2016, so die Erwartung in Brüssel, könnte ein Deal stehen.

© SZ vom 04.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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