Die Spitzenkandidaten waren eine Erfindung, die 2014 erstmals so etwas wie Farbe, ja fast Drama in den Europawahlkampf brachte. Die Idee: Die großen Parteien im Europäischen Parlament (EP) benennen einen Kandidaten, und wessen Partei bei der Europawahl die meisten Stimmen holt, der wird Chef der EU-Kommission, also der europäischen "Exekutive".
So kam es am Ende auch: Nach einem wochenlangen Machtkampf zwischen dem Parlament und Europas Regierungen wurde Jean-Claude Juncker gewählt, der Kandidat der Christdemokraten. Das EP hatte sich durchgesetzt, mit purer Sturheit und dem Motto: Wir wählen keinen anderen als unseren Kandidaten.
Jean-Claude Juncker:Polit-Junkie mit Humor
Keine Kinder, keine besonderen Hobbies: Jean-Claude Junckers Leben ist die Politik. Mit 28 wurde er Staatssekretär, mit 40 luxemburgischer Premier, mit 59 der erste mehr oder weniger vom Volk gewählte EU-Kommissionspräsident.
Die Europaabgeordneten feierten damals einen Erfolg, dem sie gerne Dauer verliehen hätten. Die Staats- und Regierungschefs hingegen, allen voran Bundeskanzlerin Angela Merkel und der britische Premier David Cameron, haben die krachende Niederlage nie verwunden. Deshalb wollen sie nun alles zurückdrehen. Laut Papieren, die der Süddeutschen Zeitung vorliegen, stellen sich die Staatsführer einer Wiederholung der Prozedur von 2014 bei künftigen Europawahlen entgegen.
Vom Hinterzimmergeklungel zur wahren Demokratie
Hinter diesem Plan stünden "alle bis auf eine" Regierung, steht in einem Bericht der niederländischen EU-Präsidentschaft. In den Hauptstädten werden rechtliche Argumente gesammelt, um die Absicht des Europaparlaments, die Institution der Spitzenkandidaten in einem Gesetz festzuschreiben, zu stoppen. Gelingt das, blieben die Spitzenkandidaten eine einmalige Veranstaltung - und über den Kommissionschef würde wieder im Hinterzimmer entschieden.
Die Kandidatenidee entspringt einerseits dem jahrzehntealten Wunsch des EP, ein "echtes" Parlament zu werden und mithin über die Exekutive befinden zu dürfen. Doch über diese Machtfrage hinaus ging es auch darum, mehr Volksnähe zu signalisieren und so den Trend zu immer geringer Beteiligung bei den Europawahlen umzukehren. Denn mit dem neuen System beeinflusst jede einzelne Stimme der Bürger zumindest indirekt die Wahl des Kommissionspräsidenten.
Zugleich wollte man mit einer als besonders undemokratisch empfundenen Praxis brechen: Bis dahin waren die Kandidaten für den Präsidentenjob bei der Kommission von den Staats- und Regierungschefs ausgekungelt worden; das EP hatte nur das Recht, sie zu bestätigen. Die Wahlbeteiligung stieg 2014 zwar trotz all der Aufregung nicht, aber immerhin sank sie auch nicht weiter. "Die Spitzenkandidaten waren ein Meilenstein auf dem Weg zu echten europäischen Wahlen, bei denen die Bürger über Politiker und Programme auf der europäischen Ebene entscheiden können", sagt der sozialdemokratische Europaabgeordnete Jo Leinen. "Umso wichtiger wäre es, das bei der Wahl 2019 fortzusetzen.
Europäisches Parlament ist empört
Der Rechtsdienst des Rates, der Vertretung der Mitgliedstaaten in Brüssel, sieht das anders. Die Argumente des EP seien "nicht überzeugend", heißt es in einer Expertise. Zwar stehe im Lissabonner EU-Vertrag, der Europäische Rat müsse bei der Auswahl der Kandidaten das Ergebnis der Europawahl "berücksichtigen", außerdem "wähle" das EP den Kommissionschef und "bestätige" ihn nicht nur.
Doch bleibe dem Rat trotzdem ein "großer Ermessensspielraum". Notfalls müsse er deshalb einen Kandidaten vorschlagen dürfen, der nicht direkt dem politischen Kräfteverhältnis im EP entspreche. Außerdem sei die Entscheidung im EP gar keine Wahl im eigentlichen Sinn, bei der man unter mehreren Kandidaten entscheiden könnte.
Im europäischen Parlament reagiert man empört auf dieses Argument: In vielen Ländern schlügen der König oder der Präsident ihren Parlamenten ja auch nur einen einzigen Kandidaten als Regierungschef vor, heißt es dort. Außerdem könne das Parlament ja immer auch Nein sagen zu dem Kandidaten, insofern sei das durchaus eine Wahl. "Es müsste einen Aufschrei in Europa geben", findet der Abgeordnete Leinen. "Die Bürger sollen eines Instruments beraubt werden, das ihnen direkten Einfluss auf die europäische Exekutive gibt."