Ursula von der Leyen ist eine respektable Politikerin, auch wenn sie, wie das Menschen tun, Fehler gemacht hat, als Verteidigungsministerin sogar schwere Fehler. Dass sie nun, nicht zuletzt wegen eines narzisstischen Präsidenten aus Frankreich und eines reaktionären Nationalisten, der in Ungarn Premier ist, als Überraschungskandidatin für das Amt des EU-Kommissionspräsidenten präsentiert wurde, ist misslich für von der Leyen, aber auch für die EU.
Die Kandidatin wurde weniger wegen ihrer Qualifikationen ausgewählt, sondern vielmehr, weil sie manches nicht ist oder anderes nicht getan hat: Sie ist nicht Manfred Weber, sie hat die Osteuropäer nicht verärgert, sie war nicht harsch zu den Schuldenstaaten Südeuropas, und sie hat sich nicht die Missgunst von Emmanuel Macron zugezogen. Macron hat auch bei diesem Gipfel gezeigt, warum es leider nicht unwahrscheinlich ist, dass die Franzosen das nächste Mal nicht mehr ihn, sondern Marine Le Pen ins höchste Staatsamt wählen. Man dachte immer, Nicolas Sarkozy sei der größte Ego-Shooter. Nein, das ist Macron.
Sollte es von der Leyen gelingen, den verärgerten Europa-Parlamentariern darzulegen, dass sie für das Amt der Kommissionspräsidentin mehr mitbringt als das, was sie nicht ist, hat sie vielleicht eine Chance, gewählt zu werden. Schafft sie das nicht, wird der in der Konstruktion der EU angelegte Konflikt zwischen Rat und Parlament voll zum Ausbruch kommen.
Die Grundlage dieses Konflikts besteht darin, dass das entscheidende Gremium in der EU der Europäische Rat ist, also die Versammlung der Staats- und Regierungschefs. Weil die EU ein Bündnis von Nationalstaaten und kein Bundesstaat von Nationen ist, liegt "die" Macht keineswegs so eindeutig in Brüssel und Straßburg, wie das die Rechten in Deutschland oder die Brexit-Fans in England gerne behaupten.
Die wichtigsten Entscheidungen fallen auf den EU-Gipfeln
Entscheidungen, auf die es ankommt, werden bei den EU-Gipfeln gefällt. Dazu gehören die wichtigen Personalentscheidungen: Die Kandidatin für die Präsidentschaft der EU-Kommission wird von den national gewählten Regierungschefinnen und -chefs dem EU-Parlament zur Wahl vorgeschlagen; auch die Kommissarinnen und Kommissare werden national benannt und vom Parlament dann (in aller Regel) bestätigt.
Das EU-Parlament ist eigentlich auch nicht das europäische Parlament, sondern es ist ein Parlament in Europa. Letztlich wird im Parlament das Organisationsprinzip des Europäischen Rats - national gewählte Regierungen bilden ein Gremium - auf die parlamentarische Ebene übertragen: Bei den sogenannten Europawahlen finden in allen Mitgliedsländern nationale Wahlen nach nationalem Recht statt. Die Gewählten werden dann in ein Parlament entsandt, dem wegen der komplizierten Staatenbund-Struktur der EU wichtige Rechte eines Parlaments fehlen.
Zum Versuch, den Status des Parlaments aufzuwerten, gehört die Erfindung der Spitzenkandidaten. Dies erweckt den Eindruck, es handele sich nicht um nationale Wahlen zur Entsendung von Abgeordneten, sondern um eine repräsentative Wahl für das Parlament Europas. Zum anderen wollte das Parlament mit der Institutionalisierung der Spitzenkandidaten dem Europäischen Rat de facto ein wichtiges Recht bestreiten, nämlich das der Benennung der Kandidaten für die Kommissionspräsidentschaft.
Europa ist nicht so organisiert, wie es oft erträumt und manchmal erzählt wird. Bis in die Achtzigerjahre war die EU ein Wirtschaftsraum mit dem geistigen Überbau des Friedenskontinents. Viele (West-)Deutsche sahen in Europa außerdem eine postnationale Heimat, weil der deutsche Nationalismus Europa in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Blut und Elend gestürzt hatte. Global gesehen war die EU eine Regionalorganisation westlicher Staaten. In der Systemkonkurrenz zwischen West und Ost war ihre Eigenständigkeit nicht sehr ausgeprägt.
Nach der Zeitenwende von 1989/91 gab es, getrieben auch durch die Balkankriege, die Hoffnung, die EU könne so etwas werden wie die hiesige Version von Francis Fukuyamas " End of History": ein liberal verfasstes Bündnis auf dem Weg zum Bundesstaat, das all die neuen Demokratien im Osten sozialisieren würde. Eine gemeinsame Währung, das Verschwinden der Grenzen, überstaatliche Organisationen waren die Symbole dafür.
Transnationale Listen sind zur Zeit wenig realistisch
Der Euphorie folgte die Ernüchterung. Die EU besteht aus 28 Staaten, die nicht alle die Grundvoraussetzungen erfüllen, was Menschen- und Freiheitsrechte angeht. Etliche Länder werden von Regierungen geführt, die nationalistische Interessen verfolgen und die offene Gesellschaft ablehnen. Der Zusammenhalt schwindet, die Briten gehen und sollten die Reaktionären in Frankreich die Präsidentschaft gewinnen, wird dies ein riesiger Rückschritt in der EU-Geschichte sein. In vielen Ländern wachsen jene Parteien, die habituell gegen die EU sind.
Es spricht nicht viel dafür, dass in absehbarer Zeit der Staatenbund enger zusammenrückt. Dies bedeutet auch, dass die Forderung, das Europa-Parlament mit transnationalen Parteilisten zu wählen, zur Zeit wenig realistisch ist. Die Nationalisten verstehen einen solchen Schritt als Schwächung der Souveränität ihrer Staaten. Die wirtschaftlichen, politischen und weltanschaulichen Unterschiede zwischen den eigentlich zu vielen Staaten der EU wachsen eher.
Deswegen sind gemeinsame, gar konsensuale Lösungen in umstrittenen Politikbereichen schwierig bis unmöglich; die Migrationspolitik ist nur ein Beispiel dafür. Selbst das EU-Parlament war nicht in der Lage, sich mehrheitlich auf einen Kandidaten für den Kommissionsvorsitz zu einigen.
Nein, Europa ist deswegen nicht gescheitert. Aber man sollte die EU so nehmen, wie sie ist: eine Regionalorganisation, die Partikularismus, große Träume und neuen Nationalismus irgendwie unter zwei bis drei Hüte zu bringen versucht.